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Mythos mit 300 Zähnen

Von Edwin Baumgartner

Wissen

Der 14. Juli ist "Shark Awareness Day" - Haie sind das Korrektiv des Ökosystems Meer, und sie sind akut bedroht.


Und sie beißen doch!

Der diesjährige "Shark Awareness Day" fällt ungünstig für die Haie: Unlängst erst, Anfang Juli, gab es zwei Todesopfer in Ägypten vor der Küste von Sahl Hasheesh, darunter eine Österreicherin. Wahrscheinlich waren Makohaie die Verursacher. Mehr Glück hatte der Rettungsschwimmer Zachari Gallo, der am 3. Juli bei Long Island (US-Bundesstaat New York) von einem Hai attackiert wurde. Gallo kämpfte und konnte den Hai vertreiben.

Tatsächlich ist es möglich, einen Haiangriff abzuwehren. Experten raten, den Hai auf die Nase zu schlagen, am besten mit einem harten Gegenstand, sofern man einen mit sich führt. Genügt das nicht, zumal die Schläge in ihrer Wirkung nachlassen, dann soll man Kiemen und Augen des Hais attackieren. Auf keinen Fall darf man sich passiv verhalten.

Sagen Experten.

Von Haien und Menschen

Und haben gewiss recht - nur vernachlässigen sie die Schockstarre, in die ein Schwimmer zweifellos verfällt, wenn er vom dämonisiertesten aller Tiere angegriffen und womöglich auch verletzt wird. Es ist eine Sache, am Schreibtisch Verhaltenstipps für eine Gefahrensituation niederzuschreiben, und eine ganz andere Sache, diese in der Gefahrensituation anzuwenden.

Auch die Statistiken trösten die
Opfer und ihre Angehörigen wenig, wenngleich sie durchaus geeignet sind, die Gefährlichkeit des Hais zu relativieren. Das Florida Museum führt solch eine Statistik, und die ist aufschlussreich: So gab es im Jahr 2021 weltweit 73 Angriffe durch Haie, von denen 9 tödlich verliefen. 47 davon fanden in den USA statt (1 tödlich), 12 in Australien (3 tödlich), 3 in Südafrika, Brasilien und Neuseeland (jeweils 1 tödlich), die restlichen in Kanada, Ecuador, Neuschottland sowie Sankt Kitts und Nevis in der Karibik.

Die meisten Attacken erfuhren dabei die Badegäste, die sich mit leichtem Gerät auf der Wasseroberfläche aufhalten, also auf Luftmatratzen, Schlauchbooten, Surfbrettern und dergleichen dahindümpeln. Erst an zweiter Stelle in der Häufigkeit kommen Schwimmer, während Taucher nur extrem selten angegriffen werden.

Es sei wahrscheinlicher, von einem Blitz getroffen zu werden, als durch einen Hai umzukommen, sagen auf das Meer spezialisierte Umweltschützer oft. Doch das ist relativ. In Österreich etwa ist es durchaus wahrscheinlicher, von einem Blitz getroffen werden, da die Haie in Donau und Neusiedlersee nur die dort lebenden Krokodile angreifen. Allerdings: Auch die USA mit langen Küstenlinien, an denen menschenattackierende Haie vorkommen, verzeichneten 2018 nur 4 tödliche Haiangriffe, aber 38 tödliche Angriffe durch Haushunde. Selbst 2011, einem Jahr mit unvergleichbar vielen tödlichen Haiangriffen, hat das Monster des Meeres 13 verursacht und der beste Freund des Menschen 32.

Dennoch ist es der Hai, der dem Menschen Angst macht - die Urangst nämlich, einmal, trotz aller Intelligenz und aller manueller Geschicklichkeit, nur an zweiter Stelle in der Nahrungskette zu stehen. 300 Zähne im riesigen Maul, das nur eines will: fressen.

Der Hai wird so zum Dämon des Meeres: Peter Benchley hat mit seinem Roman "Der weiße Hai" und Steven Spielberg mit dessen Verfilmung massiv dazu beigetragen. Zumal es nicht bei ein Mal blieb. Der Internet-Händler Amazon verzeichnet auf seiner deutschsprachigen Homepage derzeit rund 20 Filme, in denen der Hai als Menschentötungsmaschine dargestellt wird.

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Die Wahrheit ist genau umgekehrt: Der Mensch ist eine Haitötungsmaschine. Er ist dabei, den Hai auszurotten. Derzeit ist weltweit jede zweite Hai-Art direkt oder indirekt von der Ausrottung bedroht. Gründe dafür sind die Zerstörung der Lebensräume, die Verschmutzung der Meere vor allem mit Mikroplastik, das über die Beutefische in den Nahrungskreislauf des Hais gelangt, die Überfischung, die dem Hai die Nahrungsgrundlage entzieht und ihn obendrein zum Beifang macht, und der Handel mit Haifleisch und Haiflossen.

Schrumpfende Populationen

Allein diesem Handel fallen jedes Jahr mehr als 100 Millionen Exemplare der Spezies Hai zum Opfer. Das ist keineswegs nur eine Sache von Chinesen und Japanern: Ein Bericht der Tierschutzorganisation IFAW (International Fund for Animal Welfare) zeigt die unrühmliche Rolle der Europäer auf. Einer Aussendung zufolge kamen im Zeitraum 2003 bis 2020 durchschnittlich 28 Prozent der Lieferungen von Haiflossen aus EU-Staaten, vor allem aus Spanien. Im Jahr 2020 betrug der EU-Anteil, der Aussendung zufolge, sogar 45 Prozent.

In den vergangenen 50 Jahren sind die Haipopulationen der offenen See um rund 70 Prozent zurückgegangen. An jedem fünften untersuchten Riff sind Haie funktionell ausgestorben.

Mit einem sicherer werdenden Badevergnügen hat das rein gar nichts zu tun. Mit einer nachhaltigen Störung, wenn nicht gar Zerstörung des Ökosystems Meer hingegen sehr viel. Der Hai, der in allen Größen vorkommt und sich daher wie ein roter Faden durch die Meeresfauna zieht, ist der große Regulator dieses Ökosystems. Stirbt der Hai, stirbt das Meer. Und stirbt das Meer, stirbt der Mensch. Ohne Meer ist kein Leben auf der Erde möglich. Das sollte den Konsum von Schillerlocken und Haifischflossensuppe überdenken lassen.

Doch mit dem Hai kann man’s machen, so die verbreitete Meinung, denn der Hai sei ohnedies nur ein bösartiges Monstrum.

Genau das ist der übelste Effekt, den Benchleys Roman und Spielbergs (zugegebenermaßen spannender) Film und dessen Nachfolger verstärken: Die "Bösartigkeit" unterstellt dem Hai menschliche Moralvorstellungen. Im Roman "Moby Dick" sprach Herman Melville, in Bezug auf den Pottwal, von Kapitän Ahabs eigentlichem Wahnsinn: Er wolle Rache nehmen an einer Kreatur ohne Verstand, für die ergo Gut und Böse keine Kategorie sei.

Das trifft auch auf den Hai zu. Der Hai ist nicht "böse", der Mensch passt kaum in sein Beuteschema. Bei den Angriffen durch den mit schwachen Augen ausgestatteten Hai handelt es sich in der Regel um Verwechslungen mit Tieren des Beuteschemas.

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Vor allem aber gilt: Nicht der Hai macht die Meere unsicher, sondern der Mensch wagt sich auf ein ihm fremdes Gebiet vor. Nur haben Badeurlaube, Reisebüroprospekte und Fernsehserienkitsch längst das Gefühl dafür ausgetrieben, wie wenig das Meer stimmungsvolles Fotomotiv ist und wie sehr eine Naturgewalt, die sich der Beherrschung durch den Menschen widersetzt. Ein Teil davon ist der Hai.

Es liegt am Menschen, wenn er die Gefahr minimieren will: keine Essensabfälle ins Wasser werfen, starke Gerüche vermeiden, kein Blut ins Wasser bringen - das und manch anderes rät Florida Museum auf seiner Seite.

Vor allem aber gilt es, den Hai zu entmystifizieren. Er ist weder ein Monster noch der Meeresgott. Er ist ein Raubfisch. Wenngleich der wichtigste, der im Meer lebt.