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Der gefiederte Lazarus

Von Edwin Baumgartner

Wissen
Dodos beim Spaziergang - ein Blick in die nahe Zukunft?
© stock.adobe.com / Daniel Eskridge

Der ausgestorbene Dodo soll mit Hilfe von Gentechnik wiedererschaffen werden.


Schöne neue Welt der Genetik! - Der Dodo soll zurückkommen. Und das nicht in einem Roman à la Mister "Jurassic Park", Michael Crichton, oder einem seiner Verfilmer oder Kopisten in Wort und laufendem Bild, sondern ganz real. Ist das als eine Art Umweltschutzprojekt zu verbuchen, eventuell gar zu begrüßen? Ist es die Lust des Menschen, Gott zu spielen? Der Dodo gleichsam als gefiederter Lazarus? Oder gar als Vogel-Zombie, tot und lebend zugleich? Der Irrsinn scheint zu walten.

Doch die Homepage des millionenschweren US-amerikanischen Biotech-Start-ups Colossal liest sich vernünftig. Das in Dallas angesiedelte Unternehmen habe sich der "de-extinction" verpflichtet, also dem Widerstand gegen das Aussterben von Arten. Bis 2050 könnten, davon geht Colossal aus, rund 50 Prozent aller derzeit auf der Welt lebende Arten ausgestorben sein. Nun können zwar Zoos manche Arten vor dem Aussterben bewahren, aber es ist ein Unterschied, ob eine Spezies in freier Wildbahn existiert oder nur noch hinter Glaswänden und Gitterstäben.

Außerdem können Tiergärten nicht alles leisten. Zu den am massivsten gefährdeten Arten gehören schließlich Wale, die man aufgrund ihrer Körpermaße nicht in Aquarien halten kann, und diverse Haie, von denen man weiß, dass sie in Gefangenschaft sterben.

Die Lösung des Problems klingt wie die Umsetzung des Science-Fiction-Genres in die Realität: Man schafft eine Gen-Bibliothek der Arten. Bei Bedarf kann man eine ausgestorbene Art neu erschaffen. Colossal, 2021 vom Tech-Unternehmer Ben Lamm und dem Harvard-Genetiker George Church gegründet, hatte angekündigt, das Mammut und den Tasmanischen Tiger wiederzuerschaffen, ehe man jetzt auf den Dodo als Pilotprojekt kam.

"Dead as a Dodo"

Der Dodo, im deutschsprachigen Raum auch als Dronte bekannt, war ein etwa einen Meter großer flugunfähiger Taubenvogel, der ausschließlich auf der Insel Mauritius im Indischen Ozean vorkam. Er ernährte sich von vergorenen Früchten und nistete auf dem Boden. Seine seltsamste Eigenschaft wurde ihm zum Verhängnis: Er besaß weder ein Flucht- noch ein Verteidigungsverhalten. Der Dodo watschelte sogar noch auf die Matrosen zu, während sie seine Artgenossen erschlugen. Das machte das schwerfällige Tier zur leichten Beute für die Besatzungen der Segelschiffe, die ihren Proviant mit dem Dodo und seinen Eiern aufbesserten. Überdies kamen mit den Schiffen die Ratten, die sich an den Eiern des Dodo gütlich taten und den Rest des Unglücks anrichteten: 1690 wurde zum letzten Mal ein Dodo gesichtet. Die Wissenschaft geht davon aus, dass er wenig später gänzlich ausgerottet war.

Der englische Dichter, Schriftsteller und Mathematiker Lewis Carroll ließ den Dodo in seinem Buch "Alice’s Adventures in Wonderland" (1865, Alice im Wunderland) vorkommen und machte ihn damit so populär, dass die englische Sprache Redewendungen mit dem Vogel bildete: Man sagte etwa "rare as a Dodo" (selten wie ein Dodo). Freilich blieb nicht unbemerkt, dass der Dodo ausgestorben war, und so hält sich bis heute die Redewendung "dead as a Dodo", wenn man betonen will, dass jemand oder etwas absolut unumkehrbar ausgelöscht ist. Am Ende muss die Redewendung abgewandelt werden in "resurrected as a Dodo", wenn Colossal seine Pläne tatsächlich umsetzt.

Der Weg dahin ist freilich noch lang. Zwar ist es Colossal gelungen, das gesamte Genom des Dodos zu entschlüsseln. Ein Klonen der DNA wäre zwar theoretisch denkbar, funktioniert bei ausgestorbenen Spezies aber nicht, weil das Material zu stark abgebaut hat. Daher muss man das Genom einer möglichst nahe verwandten Spezies so abwandeln, dass es dem ausgestorbenen Tier weitestgehend entspricht.

Im Fall des Dodo müssen die genetischen Informationen nun mit denen verwandter Vogelarten, etwa der Nikobar-Taube, verglichen werden. Das künstlich veränderte Genom soll sodann in eine Eizelle der am engsten verwandten Art eingepflanzt werden. Daraus soll sich das neue Tier entwickeln. Zu guter Letzt, hofft Beth Shapiro, eine leitende Genetikerin des Projekts, könnte man den Vogel wieder auf Mauritius auswildern. Er wäre wohl kein originaler Dodo, sondern ein Hybrid, der dem originalen Dodo in allen Genen entspräche.

Doch es gibt ein gravierendes Problem: Die Verhaltensforschung lehrt, dass sich das Verhalten zusammensetzt aus einem angeborenen und einem in einer Wechselwirkung von Umwelt und eigenen Erfahrungen erlernten Verhalten.

Von wem soll der Dodo lernen?

Von wem soll der Dodo, in Ermangelung anderer Dodos, sein spezifisches Verhalten lernen? In den 300 Jahren seit seinem Aussterben hat sich die Umwelt verändert. Er ist fremd in ihr, und auch sie kennt ihn nicht mehr. So könnte es geschehen, dass zwar die Wiedererschaffung des Dodo gelingt, er aber erneut ausstirbt, weil er sich in den jetzigen Umweltbedingungen nicht zurechtfindet. Ebenso könnte das Ergebnis ein Vogel sein, der genetisch einem Dodo weitestgehend entspricht, der seinem Verhalten nach aber etwa eine Marquesastaube ist, sofern man ihm eine solche als Lehrmeisterin zur Seite stellt.

Die Sehnsucht, ausgestorbene Arten wiederzuerschaffen, ist nicht neu. Man versucht es etwa mit Rückzüchtungen, indem man Tiere in Zuchtwahl kreuzt. Das bedeutet, dass man Tiere kreuzt, deren körperliche Merkmale am ehesten denen der Zielart entsprechen. So kreuzten die Brüder Heinz und Lutz Heck, Leiter der Tiergärten in Berlin und München, in den 1920er Jahren mehrere europäische Rinderrassen, um ein Abbild des ausgerotteten Auerochsen zu erhalten. Das Heck-Rind bleibt allerdings ein Rind, das aus den Kreuzungen hervorgegangen ist. Es sieht aus wie ein Auerochse, ist aber genetisch keiner. Auch der Tarpan, ein im
19. Jahrhundert ausgerottetes eurasisches Wildpferd, wurde rückgezüchtet. Die ewige Begehrlichkeit aller dieser Auferstehungsprojekte ist und bleibt freilich das Mammut.

Die moralische Frage

Über all dem schwebt indessen die große moralische Frage, die sich aber anders stellt, als man annimmt. Gewiss ist es berechtigt zu fragen, ob der Mensch Gott spielen soll, indem er ein allerdings vom Menschen und nicht von Gott ausgelöschtes Lebewesen zurückholt. Gewiss ist es auch berechtigt zu fragen, ob man alles machen soll, was man machen kann.

Die eigentliche große Frage, die sich stellt, ist aber diese: Ist es sinnvoll, angesichts Tausender aktuell bedrohter Arten, eine ausgestorbene wiederzuerschaffen, deren Überleben obendrein keineswegs garantiert ist? Wäre es nicht sinnvoller, Strategien zu entwickeln, um bestehende Arten zu erhalten?

Doch es scheint, dass auch die Forschung längst nicht mehr ohne die Lust an der Sensation leben kann. Das Ende der Auferstehung könnte eine Speisekarte sein mit panierter Dronte oder mit Dodo-Wings. Dazu lieber Honig- oder Chili-Sauce?