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Gefährdetes Paradies

Von Christina Mondolfo

Wissen
Bewundert, geliebt und gefürchtet – das Meer fasziniert die Menschen seit jeher. Doch die Ozeane sind in Gefahr...
© Silas Baisch / Unsplash

Die Ozeane bedecken 71 Prozent der Erde, sind aber als Kohlenstoffsenken und Sauerstoffproduzenten massiv in Gefahr.


Das Meer ist ein Sehnsuchtsort, Inspirationsquelle für Dichter, Schriftsteller und Maler, Lebensraum für eine Vielzahl von Lebewesen, von denen wir nur einen Bruchteil kennen, ein den Globus durchgehend umspannender Reise- und Handelsweg, das größte Ökosystem der Erde – kurz, ein Ort der Superlative.

Als die Vereinten Nationen 2008 den 8. Juni als Welttag der Ozeane ausriefen, taten sie das nicht ohne triftigen Grund: Die seit Jahren herrschende Bedrohung der Weltmeere durch Verschmutzung, Überfischung und Klimawandel hatte derart bedrohliche Ausmaße angenommen, dass dies auch der breiten Öffentlichkeit dringlich vor Augen geführt werden sollte. Die entscheidende Rolle der Meere im Kohlenstoff- und Wasserkreislauf der Erde sowie für die Nahrungsversorgung ist heute gefährdeter denn je. Ganz zu schweigen von den katastrophalen Auswirkungen auf das Leben in den Ozeanen…

Überfischung und Beifang

Fische und Meeresfrüchte werden auf der ganzen Welt gegessen – für viele ist es Luxus, für viele oft die einzige Proteinquelle. Die steigende Nachfrage hat jedoch eine verhängnisvolle Wende für Mensch und Tier mit sich gebracht: Die traditionellen Fischer werden verdrängt, statt ihren kleinen Booten sind riesige Trawler mit ebenso riesigen Netzen auf den Meeren unterwegs, um Fischfang in bisher nie gekanntem Ausmaß zu betreiben. Dank moderner GPS-Technik können Fischschwärme schnell geortet und gefangen werden. Doch die industriellen Fischereiflotten haben längst die ökologischen Grenzen der Ozeane gesprengt, denn seit langem wird mehr Fisch entnommen als die Natur nachliefern kann. Laut den aktuellen Zahlen der FAO (Food and Agriculture Organisation of the United Nations; Welternährungsorganisation) lag 2020 die weltweite Produktion von Fisch aus Fischerei und Aquakultur (Meer und Süßwasser) bei 214 Millionen Tonnen; davon waren 178 Millionen Tonnen Fisch und Meeresfrüchte und 36 Millionen Tonnen Algen. Das sind bei den Wassertieren im Schnitt um 30 Prozent mehr als in den 2000er Jahren sowie 60 Prozent mehr als in den 1990er Jahren. Während Mitte der 1970er Jahre noch rund 90 Prozent der weltweiten marinen Fischbestände von der FAO als "biologisch nachhaltig" eingestuft wurden, trifft dies nunmehr nur noch auf rund zwei Drittel zu – rund 36 Prozent der Bestände gelten heute als überfischt. Die davon am stärksten betroffenen Regionen sind das Mittelmeer, das Schwarze Meer, der Südostpazifik sowie der Südwestpazifik.

Die industriell betriebene Fischerei hat abgesehen von der Überfischung weitere Nebeneffekte, etwa den Beifang. In den riesigen Netzen verheddern sich immer wieder Wale, Delfine, Rochen oder Schildkröten, die sich nicht mehr befreien können und sterben. Werden die Netze an Bord geholt, werden ihre Kadaver ins Meer zurückgeworfen – ein sinnloser tausendfacher Tod. Außerdem zerstört die Grundschleppnetzfischerei den Ozeanboden und dessen Bewohner beziehungsweise deren Lebensraum.

Verschmutzung

Die Verschmutzung der Meere durch Plastik ist heute nicht mehr zu übersehen – oder aber doch. Denn während die Müllstrudel etwa im Pazifik oder die Tonnen an Abfällen an den Stränden nicht zu übersehen sind, bleiben die teilweise mikroskopisch kleinen Plastikteile, die von Fischen und anderen Meeresbewohnern geschluckt werden, unsichtbar. Sie gelangen über die Nahrungskette auf die Teller der Menschen – und in deren Mägen.

Fische, ein Manta – und ein Plastikbeutel. Letzterer gehört eindeutig nicht in diese Idylle.
© Philip Thurston / Getty

Plastikflaschen, -tragtaschen oder anderer Müll landen ebenfalls in den Mägen großer Fische, Meeressäuger, Schildkröten oder Seevögel – sie verenden, weil ihre Mägen zwar voll sind, aber eben nicht mit Nahrung. Viele von ihnen ersticken oder ertrinken, weil sie sich in Plastikteilen oder herrenlosen Netzen im Wasser (sogenannten Geisternetzen) verheddern. Unternehmen wie die holländische Stiftung "The Ocean Cleanup" versuchen mit einem eigens entwickelten Gerät, Plastikabfall aus dem größten Müllstrudel im Pazifik zu entfernen, allerdings haben Untersuchungen ergeben, dass diese Aktion letztendlich ein Nullsummenspiel ist, denn die Menge an Plastikmüll, die weiterhin ins Meer gelangt, ist genauso groß wie die, die entfernt wird.
Über Industrieabwässer werden Chemikalien und Schwermetalle ins Meer geleitet, die sich im Fett von Walen, Haien und anderen Meeresbewohnern ablagern und durch den Verzehr derselben ebenfalls in den menschlichen Körper gelangen. Die Auswirkungen auf den Organismus sind bislang nur wenig erforscht.
Küstennahe Gewässer leiden zunehmend unter Eutrophierung, also übermäßigen Nährstoffeinträgen. Nitrat und Phosphat, die bei der Massentierhaltung und in intensiv landwirtschaftlich genutzten Gebieten anfallen und über Flüsse ins Meer gelangen, führen zu übermäßigem Wachstum von Algen und Wasserpflanzen, die vielen Kleinlebewesen und Tieren die Lebensgrundlage entziehen. Der sinkende Sauerstoffgehalt im Wasser macht diese Zonen zu sogenannten "Todeszonen", in denen nichts mehr gedeiht. Von den 63 großen marinen Ökosystemen, die unter dem Transboundary Water Assessment Programme überwacht werden, sind 16 Prozent in der hohen oder höchsten Risikogruppe eingestuft. Die größten Probleme sind in Westeuropa, Süd- und Ostasien und im Golf von Mexiko zu beobachten. Bis 2050 wird mit einer Zunahme der Zahl betroffener Regionen auf 21 Prozent gerechnet.
90 Prozent aller weltweit produzierten Güter werden auf Schiffen über die Weltmeere transportiert. Auf ihrem Weg entledigen sich diese gerne ihres Mülls, obwohl es verboten ist: Abwässer, Chemikalien oder Ölreste gehören ebenso dazu wie Essensreste oder Dinge des täglichen Bedarfs – zumindest des menschlichen. Insgesamt also jede Menge Unrat und gefährliche Stoffe, die sowohl das Leben im Meer als auch an Land gefährden.

Klimawandel

Die größte Gefahr für die Vielfalt des Lebens im Meer ist jedoch der Klimawandel. Die steigenden Lufttemperaturen führen auch zu steigenden Temperaturen in den Meeren, vor allem in den oberen Wasserschichten. Die dort lebenden Tiere haben meist nur eine geringe Temperatur-Spannbreite, in der sie sich wohlfühlen. Bei andauernder steigender Wassererwärmung wandern kälteliebende Arten daher in kühlere Gewässer in den Norden ab, während wärmeliebende Arten aus dem Süden nachrücken. Dadurch entstehen jedoch Lücken in der Nahrungskette, Räuber und Beute passen nicht mehr zusammen, die Artenzusammensetzung ist gestört. Das Abwandern in tiefere Meeresschichten ist dagegen für die meisten Arten keine Option, denn dort fehlen Sonnenlicht und pflanzliche Nahrung, die für viele überlebensnotwendig sind.

Die Oberflächentemperatur der Meere ist außerdem ein wichtiger Faktor für die Atmosphäre und damit das Wetter. Werden die Meere in tropischen Breiten wärmer, nimmt die Heftigkeit tropischer Stürme zu – und das wiederum bedroht die Küsten samt den dort lebenden Menschen.

Erhöhte Wassertemperaturen führen weiters zu einer verstärkten Eisschmelze in der Arktis. Dies bedroht nicht nur die Lebensräume von Eisbären und Robben, sondern führt zu einer "Verdünnung" des Meerwassers einerseits durch die thermische Ausdehnung des Wassers und andererseits durch die verstärkte Einbringung von Süßwasser aus den schmelzenden Gletschern. Die veränderte Wasserdichte hat Einfluss auf die Meeresströmungen: Am Beispiel des Nordatlantikstroms bedeutet das, dass das Absinken kalten Wassers verhindert wird und somit die Tiefenwasserbildung nicht stattfinden kann. In Folge würde der Nordatlantikstrom versiegen, was die Temperaturverteilung im gesamten Atlantikraum verändert, den Meeresspiegel im Nordatlantik steigen, auf der Südhalbkugel hingegen fallen lässt. Außerdem würde sich der tropische Niederschlagsgürtel verschieben.

Steigende Meerestemperaturen und Versauerung sind vor allem ein großes Problem für Meereslebewesen mit einem Kalkskelett wie Korallen oder einer Kalkschale wie Schnecken und Muscheln – beide können ihre Stütze respektive Schutzhülle nicht mehr richtig ausbilden. Korallen beherbergen in ihrem Inneren Photosynthese betreibende Algen, die ihnen ihre Farbe geben und mit denen sie in Symbiose leben (die Algen versorgen die Koralle mit Zucker und erhalten im Gegenzug Stickstoff). Wird das Wasser wärmer, stufen die gestressten Korallen die Algen quasi als Fremdkörper ein und stoßen sie ab – die Korallen bleichen in Folge aus und verhungern. Von dieser Korallenbleiche sind mittlerweile viele Korallenriffe betroffen, das bekannteste ist das Great Barrier Reef vor Australien. Bei Schnecken und Muscheln wird die Schale zunehmend dünner, was sie unter anderem anfälliger gegenüber Fressfeinden macht. Auch viele Arten von Phytoplankton bilden Kalkskelette – sie sind doppelt betroffen, denn je niedriger der pH-Wert des Wassers ist, desto weniger Eisen können diese winzigen Algen aufnehmen. Das brauchen sie jedoch für ein gesundes Wachstum. Und das wärmere Wasser in Verbindung mit der Versauerung führt zu einer verlangsamten Vermehrung des Phytoplanktons – es bildet jedoch das erste Glied in der marinen Nahrungskette und beeinflusst somit wiederum die Vermehrung nächstgrößerer Organismen. Und da Phytoplankton 70 Prozent des verfügbaren Sauerstoffs produziert, sind die Auswirkungen einer sinkenden Zahl dieser Kleinstlebewesen leicht auszurechnen…
Einer der größten Verursacher der Erderwärmung und damit des Klimawandels ist die Emission von CO₂ (Kohlenstoffdioxid). Ein Großteil davon landet im Meer, wo sich das Gas im Wasser löst. Dadurch entsteht Kohlensäure – das Wasser wird sauer, der pH-Wert sinkt. Mit dieser Übersäuerung kommen allerdings viele Meereslebewesen, vor allem auch Weichtiere und Wirbellose, nicht zurecht: Wie beim Phytoplankton werden ihre Nahrungsaufnahme, aber auch ihre Fortpflanzung beeinträchtigt. Außerdem kehren die Übersäuerung und der Anstieg der Wassertemperatur den Absorbierungsprozess um – die CO₂-Speicherfähigkeit der Meere sinkt.

Ein weiteres Problem stellt die geringere Erwärmung tieferer Wasserschichten dar, denn die verringerte vertikale Durchmischung verhindert den Transport von mit CO₂ angereichertem Oberflächenwasser in die Tiefe – der Ozean kann nicht mehr als Kohlenstoffsenke fungieren.

Schützen, schützen, schützen

Fischernetze sind immer wieder Todesfallen für Meerestiere wie hier eine Meeresschildkröte.
© Anadolu Agency / Gett

Wie können wir den Meeren helfen, ihnen eine kleine Atempause und damit die Möglichkeit zur Regeneration verschaffen? Emissionen drastisch reduzieren, weder Müll noch Abwässer ins Meer leiten, zerstörerische Fischfangpraktiken abschaffen, Rohstoffabbau und Küstenverbau nur nach strengen ökologischen Vorgaben genehmigen, die Schifffahrt reduzieren und auf saubere, leise Schiffe umstellen, nur bestimmte Routen erlauben, um die Lärmbelastung für Meeressäuger zu minimieren – und die Einhaltung aller Vorgaben streng kontrollieren. Ganz oben auf der Liste vieler Wissenschafter und Umweltschutzorganisationen steht jedoch seit langem die Einrichtung von Meeresschutzgebieten. In diesem Punkt ist endlich ein Meilenstein erreicht worden: Nach jahrelangen Verhandlungen wurde Ende 2022 verbindlich beschlossen, 30 Prozent Schutzgebiete an Küsten und im Wasser einzurichten. Im März 2023 kam ein UN-Abkommen zum Schutz der Meere zustande: Das BBNJ-Abkommen (Biodiversity Beyond National Jurisdiction), das bahnbrechend für den Schutz der Hochsee ist und der Artenvielfalt im Meer eine neue Chance gibt. Ein zentraler Durchbruch dieses Abkommens ist die Möglichkeit, von nun an Hochseeschutzgebiete zu schaffen. Denn die Hochsee umfasst 64 Prozent der Meere, weshalb hier Schutzgebiete zwingend notwendig sind, um das 30×30-Ziel (30 Prozent der Meere müssen bis 2030 unter Schutz gestellt werden, um der Artenvielfalt der Ozeane eine Chance zu geben) zu erreichen. Der große Pluspunkt dabei: Sollten bei BBNJ-Verhandlungen alle Versuche für einen Konsens erschöpft sein, kann die Entscheidung mit einer Zweidrittel-Mehrheit durchgesetzt werden. Allerdings müssen Organisationen wie die regionalen Fischereiorganisationen (RFMO) und die Internationale Organisation für Tiefseebergbau (ISA) in die Entscheidung eingebunden werden, was zu Konflikten führen kann. Während es vermutlich noch einige Jahre dauern wird, bis das erste BBNJ-Schutzgebiet in Kraft tritt, beginnen die Umweltverträglichkeitsprüfungen (UVP) bereits ab der Vertragsratifizierung. Diese müssen jedoch, wenn sie von bestehenden Organisationen wie den RFMO oder der ISA ausgehen, nur entsprechend deren eigener Satzungen gemacht werden. Die Effektivität solcher UVP ist daher in Frage zu stellen. Trotzdem ruhen nun viele Hoffnungen auf dem BBNJ-Abkommen und der raschen Umsetzung.