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Die unbekannte Vielfalt

Von Roland Knauer

Wissen
Jede Art zählt: Ohne die Käfer, die ihren Kot fressen, würden dieSerengeti-Antilopen der Savanne in Tansania wohl schaden.
© © © Sean Russell/fstop/Corbis

Es dürfte noch rund 1200 Jahre dauern, bis alle Arten bekannt sind.


Berlin. Die Spinne Caerostris darwini, die in Madagaskar riesige Netze an 25 Meter langen Fäden verankert. Der Blutegel Tyrannobdella rex, der an der Nasenschleimhaut eines peruanischen Mädchens lebte. Die zwei Meter lange Echse Varanus bitatawa, die als Vegetarier in den Baumkronen der Philippinen unterwegs ist. Die 40 Zentimeter lange Antilope Philantomba walteri in den Regenwäldern Westafrikas, oder die Seefledermaus Halieutichthys intermedius, die auf Stummelflossen über den Grund des Golfs von Mexiko hüpft: Das sind nur fünf der vielen Arten, die Biologen 2010 (Zahlen für 2011 noch nicht verfügbar) entdeckt haben.

Jedes Jahr beschreiben Wissenschafter einige Tausend neue Spezies. Zumindest in den Biologie-Büchern steigt somit stetig die Vielfalt der Arten. Gleichzeitig beklagen Naturschützer den Artenschwund. Was aber stimmt denn nun: Haben wir immer mehr Spezies - oder immer weniger? Und wie viele Arten gibt es überhaupt? "Die Zahl der auf der Erde lebenden Arten nimmt keineswegs zu", sagt Christof Schenck, Geschäftsführer der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF). Als "neu" gelte eine Spezies nur, wenn Wissenschafter sie zum ersten Mal beschreiben. Existiert haben die meisten davon allerdings schon seit Jahrmillionen.

"Wenn ich in die Bibliothek gehe, dort ein mir neues Buch entdecke und es lese, dann steigt dadurch ja auch nicht die Zahl der Bücher in der Weltliteratur", erklärt Schenck. Viele neu entdeckten Arten sind nur den Forschern neu, nicht aber den Menschen, die in der Nähe des Fundortes leben. P Die Antilope Philantomba walteri etwa wurde gar nicht in der Natur entdeckt, sondern auf Märkten des westafrikanischen Staates Benin, auf denen das in Afrika "bushmeat" genannte Jagdwild-Fleisch verkauft wird. Seine Jäger kannten die Antilopenart also schon lange.

"Kaum entdeckt, droht so manche Art schon wieder auszusterben", betont Schenck. So haben die ZGF und das Deutsche Primatenzentrum in Göttingen über Erbgutanalysen in Kotproben den Nördlichen Gelbwangen-Schopfgibbon Nomascus annamensis gefunden. Diese Affen leben in den Wäldern des südlichen Laos und in der Mitte Vietnams. Wie lange sie ihre Entdeckung durch die Wissenschaft überleben wird, ist kaum abzuschätzen: Wenn Motorsägen ihren Wald abholzen, verlieren sie ihr Zuhause. Auch taucht der Schopfgibbon, der illegal gejagt wird, auf dem Speiseplan so mancher Einheimischen auf.

Kein Panzer gegen Ölpest

Eine andere Gefahr droht der 2010 im Golf von Mexiko entdeckten Seefledermaus Halieutichthys intermedius. Dieser nicht einmal handtellergroße, orange-farbene Fisch ist platt wie ein Keks und wehrt sich mit Stacheln und Knochenplatten gegen Feinde. Gegen die Ölpest nach der Explosion der Öl-Plattform "Deepwater Horizon" im Golf von Mexiko half ihm sein Panzer jedoch kaum. Unmittelbar nach der Entdeckung der Art hüllte eine aus dem ausströmenden Öl entstandene Masse, die an ein giftiges Mousse au Chocolat erinnerte, das gesamte Verbreitungsgebiet der Seefledermaus in 400 Meter Wassertiefe ein. Ihre Flossen haben sogar Ellbogen, weil sie mit ihnen nicht schwimmt, sondern sich vom Meeresboden abstößt, um ein Stück weiterzuhüpfen. Ob sie mit dieser Fortbewegung der Ölpest entkommen konnte, weiß jedoch niemand.

Biologen kennen derzeit rund 1,2 Millionen Spezies. In den vergangenen 20 Jahren sind mehr als 120.000 Arten neu beschrieben, damit jährlich rund 6200 neu entdeckt worden. Wie viele mehr es noch geben könnte, haben Camilo Mora von der Dalhousie Universität im kanadischen Halifax und seine Kollegen berechnet. Die Forscher gingen von der Systematik aus, mit der Biologen die Arten auf verschiedenen Ebenen in Gruppen wie "Säugetiere" oder "Insekten", "Pflanzen" oder "Pilze" einteilen.

Die Systematik zeigt ein festes Muster, aus der sich die Gesamtzahl der Arten in jeder Gruppe ermitteln lässt, selbst wenn nur ein Bruchteil davon bereits bekannt ist. Insgesamt kamen die Forscher auf 8,7 Millionen Arten weltweit, es könnten auch 1,3 Millionen mehr oder ebenso viele weniger sein. 2,2 Millionen leben im Meer, der Rest an Land. Somit wären 86 Prozent aller Arten auf der Erde noch nicht von Wissenschaftern beschrieben.

Entdecken die Forscher im bisherigen Tempo weiterhin 6200 neue Arten jährlich, dürfte es noch rund 1200 Jahre dauern, bis alle Arten bekannt sind. Und da die Beschreibung einer einzigen Art im Durchschnitt die stolze Summe von 48.500 US-Dollar kostet, würde sich die Gesamtrechnung auf 364 Milliarden Dollar belaufen.

Jede Spezies spielt eine Rolle

Als Gegenleistung bekäme man einen Katalog, in dem rund 8,7 Millionen Arten beschrieben sind. Lohnt sich das? Christof Schenck ist davon überzeugt: "Jede Art spielt in der Natur eine einmalige Rolle. Wie wichtig diese Rolle für das Gesamtsystem ist, wissen wir aber frühestens dann, wenn wir diese Art auch kennen."

Als Beispiel nennt der Biologe die Serengeti-Steppe in Tansania, wo 1,5 Millionen Gnu-Antilopen leben. Sobald eines der Tiere Kot fallen lässt, sind kleine, dunkle Käfer zur Stelle, die den Dung in die Erde einarbeiten und so der Savanne die Nährstoffe zurückgeben, die die Gnu-Antilope ihr vorher entzogen hat, als sie das Gras fraß. Bei 1,5 Millionen Gnus, von denen jedes um die 200 Kilogramm wiegt und entsprechende Mengen Kot produziert, ist das eine gigantische Leistung des unscheinbaren Käfers. "Ohne dieses Recycling würde das Gras nicht mehr sprießen und das Ökosystem Serengeti würde zusammenbrechen", fasst Schenck zusammen. Manchmal entscheidet also eine einzige Art über das Aussehen einer ganzen Landschaft.