Zum Hauptinhalt springen

Unerwartete Begegnungen

Von Kerstin Viering

Wissen

Vor allem in den Tropen, aber nicht nur dort, werden Biologen noch oft fündig.


Berlin. Das Tier saß im Hinterhof des Grundschul-Direktors der Stadt Opala in der Demokratischen Republik Kongo. Ein Affenweibchen mit blassem Gesicht, blondem Bart und einem Fell in Schwarz und Bernsteintönen. Ein Lesula sei das, erläuterte der Lehrer die Identität seines Haustieres, das er lokalen Jägern abgekauft hatte. Von einem solchen Affen aber hatten John Hart vom Yale Peabody Museum of Natural History im amerikanischen New Haven und seine Kollegen nie zuvor gehört. Konnte es sich um eine bisher unbekannte Art handeln?

Nach der ersten Begegnung im Juni 2007 machte sich das Forscherteam auf Spurensuche. Und tatsächlich fanden sich einige tote Affen, die der Hofbewohnerin verdächtig ähnlich sahen. Akribisch verglichen die Biologen Körperbau und Farbe, Stimme und Erbgut der Tiere mit bekannten Affenarten wie der Eulenkopfmeerkatze Cercopithecus hamlyni. Und die Detektivarbeit lohnte sich. Im Online-Fachjournal "Plos One" stellten die Forscher jüngst die bisher unbekannte Meerkatzen-Art Cercopithecus lomamiensis vor.

Mehr als 18.000 neue Arten präsentieren Forscher jedes Jahr in solchen Publikationen. Dahinter steckt eine Menge Forschungsarbeit. Denn ohne langwierige Vergleiche von Aussehen und Genetik lässt sich nicht entscheiden, ob man wirklich ein für die Wissenschaft unbekanntes Lebewesen vor sich hat. Oft kommt es auf winzige Details an. Die Form eines Penisknochens zum Beispiel. Oder die Zahl der Borsten an einem Insektenbein. Bis man das alles gezählt, vermessen und mit schon bekannten Arten verglichen hat, können leicht ein paar Jahre vergehen.

Wer der Welt neue Tiere oder Pflanzen vorstellen will, braucht also erstens Geduld. Und zweitens Glück. Denn viele Arten werden durch reinen Zufall entdeckt: Ein Forscher begegnet einem Lebewesen, von dem bis dahin niemand wusste. Oder zumindest kein Biologe. "Die Menschen vor Ort kennen diese Arten oft schon längst", weiß Christof Schenck, Geschäftsführer der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF).

Der Zoologe erinnert sich noch gut an den Fall des Panay-Warans Varanus mabitang, den Mitarbeiter eines ZGF-Projektes vor ein paar Jahren auf der philippinischen Insel Panay entdeckt haben. Jäger hatten von einem großen, schwarzen Waran berichtet, der angeblich in den Wäldern Panays auf den Bäumen herumkletterte. Jägerlatein? Nach drei Jahren Suche konnten die Forschern ein solches Tier fangen. "Dieses Reptil ist 1,75 Meter lang und lebt in kleinen Waldresten auf einer dicht besiedelten Insel", sagt Schenck. Trotzdem war noch kein Biologe darauf aufmerksam geworden.

Noch viel leichter entgehen kleinere Arten neugierigen Forscherblicken. So können zum Beispiel Insektenkundler noch in nahezu allen Lebensräumen der Erde interessante neue Bekanntschaften machen. Und auch für andere wirbellose Entdeckungen stehen die Aussichten selbst in gut erforschten Gebieten nicht schlecht.

Die größten Chancen bieten freilich die Tropen mit ihrer schier unüberschaubaren Artenvielfalt. So brachte eine einzige Expedition auf die Philippinen im Frühjahr 2012 mehr als 300 Neuentdeckungen. Insgesamt 42 Tage lang hatten Wissenschafter der California Academy of Sciences gemeinsam mit philippinischen Kollegen die Artenvielfalt der Insel Luzon und der umgebenden Gewässer unter die Lupe genommen.

Mit etwas Glück kann man in den Tropen sogar noch auf unbekannte Vögel oder Säugetiere stoßen. "In Mitteleuropa ein neues Säugetier finden zu wollen, ist dagegen ziemlich aussichtslos", meint Schenck. Vielleicht gibt die Genetik der Spitzmäuse noch den einen oder anderen neuen Vertreter her, doch mit spektakulären Entdeckungen ist nicht zu rechnen. In den Tropen stehen die Chancen viel besser, wissen ZGF-Mitarbeiter aus eigener Erfahrung.

Tilo Nadler zum Beispiel leitet das von der ZGF betriebene "Endangered Primate Rescue Center" im Cuc Phuong Nationalpark Vietnams, an sich eine Auffangstation für bedrohte Affen. Als jedoch Park-Ranger im März 2005 einen schwer verletzten Sonnendachs brachten, wurde auch der nicht abgewiesen. Das braune Tier mit spitzer Schnauze und silbrigem Schimmer im Fell kam der Tierärztin des Zentrums seltsam vor. So recht wollte sein Aussehen zu keiner der vier bekannten Sonnendachs-Arten passen. Als man 2006 einen ganz ähnlichen toten Sonnendachs fand, erhärtete sich der Verdacht: Tilo Nadler war ziemlich sicher, dass in seiner Nachbarschaft eine bis dahin unbekannte Art lebte. Inzwischen hat Christian Roos vom Deutschen Primatenzentrum in Göttingen auch einen Blick ins Erbgut des kleinen Raubtiers geworfen. Demnach handelt es sich um einen sehr ursprünglichen Vertreter der Sonnendachse, der sich schon vor rund 3,5 Millionen Jahren entwickelt hat.

Verräterischer Gesang

Der braune Jäger, der 2011 auf den Namen Melogale cucphuongensis getauft wurde, ist nicht der einzige Exzentriker in Vietnams Wäldern. Sogar eine neue Menschenaffen-Art haben Mitarbeiter der ZGF und des Deutschen Primatenzentrums in der Grenzregion zwischen Vietnam, Laos und Kambodscha entdeckt. Der 2010 beschriebene Nördliche Gelbwangen-Schopfgibbon Nomascus annamensis hatte sich durch seinen Gesang verraten, der sich deutlich von dem der sechs anderen Schopfgibbon-Arten unterschied. Doch die geschickten Kletterer leiden unter illegaler Jagd und der Zerstörung ihrer Wälder. "Dieses Schicksal teilen die Affen mit vielen neu entdeckten Arten", sagt Christof Schenck. Kaum bekannt, sind sie auch schon bedroht.

Die Suche nach neuen Arten
Neuen Schätzungen zufolge sollen auf der Erde zwischen acht und neun Millionen Arten leben, davon sind erst etwa zwei Millionen wissenschaftlich beschrieben. Für Arten-Fahnder gibt es also noch viel zu tun.
Jede neu entdeckte Art erhält einen lateinischen Doppelnamen, der erste Teil bezeichnet die Gattung, zu der das Lebewesen gehört, der zweite ist spezifisch für die Art. "Panthera tigris" steht zum Beispiel für den Tiger, der gemeinsam mit Arten wie dem Löwen oder dem Jaguar zur Gattung Panthera, den "Eigentlichen Großkatzen", gehört. (kv)