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Am Anfang war eine Dohle

Von Christina Mondolfo

Wissen

Was im März 1988 als kleiner Verein, der sich für ein besseres Leben für Heim-, Nutz- und Wildtiere einsetzte, begann, ist heute die größte europäische Tierschutzorganisation.


"Vier Pfoten"-Chef und -Gründer Helmut Dungler.
© Moritz Ziegler

Obwohl er gleich nach unserem Interview-Termin wieder weg muss, weil er nach Brüssel fliegt, um dort auf EU-Ebene in Sachen Tierrechte tätig zu werden, wirkt Helmut Dungler ganz entspannt. Der Gründer und Leiter der größten europäischen Tierschutzorganisation "Vier Pfoten" ist Trubel gewöhnt, aus der Ruhe bringt ihn nicht so schnell etwas.

Tierliebe bedeutet loslassen
Aufgewachsen ist er auf dem Land und der Kontakt mit und zu Tieren war ihm immer schon wichtig. Doch den Anstoß, sich intensiver mit unseren Mitgeschöpfen und ihren Bedürfnissen zu beschäftigen, gab eine Dohle: "Sie war aus dem Nest gefallen, und ich habe sie mit nach Hause genommen und aufgezogen. Sie begleitete mich überall hin, war unglaublich gewitzt und intelligent. Doch dann kam eines Tages ein Dohlenschwarm ins Dorf, und sie zeigte mir, dass sie gerne mit den anderen ziehen würde. Da verstand ich, dass ein Wildtier niemals ein Haustier sein kann und darf, das wäre kein artgerechtes Leben. Also ließ ich sie ziehen. In diesem Moment begriff ich, dass Tierliebe loslassen bedeutet", erzählt Dungler im Gespräch mit dem "Wiener Journal".
Und was macht ein tierliebender Mensch nach der Matura? Er studiert an der Veterinärmedizinischen Universität. Doch da hielt es den jungen Mann nicht lange: "Da herrschten damals eher gruselige Ansichten, etwa was die Haltung von Legehennen betraf. Das war es dann auch schon wieder mit meiner Uni-Karriere." Dungler heuerte bei Greenpeace an und war dort unter anderem für den Bereich  Meeresökologie zuständig. Das war ihm allerdings etwas "zu weit weg" , und er suchte sich regionale Tierthemen. Dabei kam ihm zugute, dass Mitte der 1980er Jahre Umwelt- und Tierschutz an Wichtigkeit gewannen, doch gerade Letzterer blieb hauptsächlich auf Haus- und Heimtiere beschränkt; große Kampagnen für Nutz- oder Wildtiere gab es nicht.

In dieser Zeit des Aktivismus beschloss Dungler, gemeinsam mit einigen Freunden den Tierschutzverein "Vier Pfoten" zu gründen: "Der Name war eigentlich nur als Übergangslösung gedacht, aber weil uns kein besserer eingefallen ist, ist es dabei geblieben. Und er ist ja nicht schlecht", schmunzelt er.
Zur ersten großen Aufgabe machte es sich der Verein, gegen die rund 60 Pelztierfarmen, die es 1988 in Österreich gab, vorzugehen. "Die Pelztierhaltung war überhaupt nicht im Tierschutzgesetz geregelt, sondern da ging es um den Umweltgedanken in Bezug auf die Exkremente der Tiere und die Verseuchung des Grundwassers", erinnert sich Dungler. "Es waren furchtbare Zustände, die da herrschten, aber wir zeigten sie auf. Zehn Jahre später schloss die letzte Pelzfarm in Österreich."

An vorderster Front

Seither stehen auf der Agenda der "Vier Pfoten" Themen wie Tiertransporte, verbesserte Lebensbedingungen in der Nutztierhaltung, das Aus für Tierversuche für Kosmetika, Streunerhunde, Tanzbären, Bären und Großkatzen aus schlechter Haltung, Legehennenbatterien und und und… Doch wie entscheidet man, für welche Projekte man sich einsetzt und für welche nicht? "Dafür gibt es einige Kriterien: Wo herrscht dringende Notwendigkeit, wo ist das Thema gesellschaftlich durchgedrungen? Was können wir erreichen, was können wir umsetzen? Und ist die Zeit politisch reif? Was verändern wir für die Tiere insgesamt? Fragen über Fragen also, aber notwendige. Wir wollen nämlich große Veränderungen, vor allem gesetzlicher Natur, so wie wir es etwa im Jahr 2000 in Bulgarien mit den Tanzbären geschafft haben. Wir konnten die Regierung davon überzeugen, die Tanzbärenhaltung zu verbieten, dafür haben wir ein großes Areal bärengerecht gestaltet und die Tiere dorthin gebracht. 2007 durften die letzten Bären in den Bärenpark übersiedeln, wo jetzt alle artgerecht und frei leben können. Wir würden das auch gerne in Albanien machen, wo wir von vier Tanzbären wissen, allerdings ist die Regierung nicht gesprächsbereit, deshalb können wir dort leider nichts für die armen Tiere tun", ist Dungler das Bedauern deutlich anzumerken. Zu Frustration hat er allerdings zum Glück keine große Affinität, "die darf man nicht haben, sonst könnte man diesen Job nicht machen."

"Vier Pfoten" rettete 2012 Bär Potap (Ukraine).
© Vier Pfoten, Mihai Vasile

Die "Vier Pfoten" sind aber auch bei Naturkatastrophen oder in außergewöhnlichen Situationen zur Stelle, zuletzt etwa halfen Mitarbeiter den Arbeitspferden und -eseln in Ägypten während der Revolution, versorgten die Tiere im Zoo von Tripolis während des Bürgerkriegs in Libyen, oder leisteten Hilfe während der Überschwemmungen in Pakistan 2010. Einer, der maßgeblich an der Koordination dieser Projekte beteiligt ist, ist der in Ägypten geborene Tierarzt Amir Khalil. Er begann 1994 als Volontär und wurde 1997 als Chef-Tierarzt und Projektleiter bei "Vier Pfoten" angestellt. Er ist immer an vorderster Hilfsfront zu finden, egal ob es um die Kastration von Straßenhunden, die Versorgung von geschundenen Pferden oder die Rettung eines entführten Bärenbabys geht. "Obwohl Amir so viel unterwegs ist und so viel Leid sieht, ist er immer gut gelaunt. Seine Hartnäckigkeit sollte man allerdings nicht unterschätzen, er kann sich richtig in Projekte verbeißen", beschreibt Dungler seinen langjährigen Weggefährten in Sachen Tierschutz.

Kein Ende in Sicht

Mittlerweile hat "Vier Pfoten" Büros in elf Ländern, darunter auch in den USA, und 220 Angestellte. In Brüssel versucht ein kleines Team, die "tauben Ohren der EU für Tierschutz zu öffnen", in den USA arbeitet man daran, die Haltungsbedingungen von Nutztieren zu verbessern, in Ungarn betreut man hauptsächlich Pferdeprojekte, in Rumänien, Bulgarien und der Ukraine liegt der Schwerpunkt auf den Streunerhunden und den Bären. Ein Ende der Tätigkeiten ist derzeit nicht in Sicht, in den kommenden Jahren will Dungler im Kosovo tätig werden und Bären aus schlechter Haltung befreien. In Polen gibt es eine Kooperation mit dem Zoo von Posen, bei der es ebenfalls um Bären aus Privathaltung geht. Das alles kostet Geld und zwar jede Menge. Finanziert wird alles aus Spendengeldern – und da ist "Vier Pfoten" um absolute Transparenz bemüht, weshalb der Verein seit einigen Jahren als Stiftung geführt wird: "Aufgrund der wirtschaftlich angespannten Lage ist es schwieriger geworden, finanzielle Mittel aufzutreiben, besonders neue Spender sind kaum anzusprechen. Einen Rückgang müssen wir allerdings noch nicht verzeichnen, sagen wir, das Spendenaufkommen stagniert", erklärt Dungler. Doch dank vieler Freiwilliger und ehrenamtlicher Helfer bleibt alles am Laufen.
Trotz diverser Rückschläge zählen für Dungler die Erfolge und derer gibt es viele. Der "Vier Pfoten"-Chef lässt es sich auch nicht nehmen, immer noch viele Projekte vor Ort zu begleiten und mitzuhelfen. So ist er auch stets dabei, wenn Löwen oder Tiger aus Zoos, Zirkussen oder Privathaltung befreit und nach Lionsrock, einem riesigen Areal in Südafrika, gebracht werden, wo sie frei und artgerecht leben können. Dabei hatte er auch eines seiner schönsten und gleichzeitig bedrückendsten Erlebnisse: "Wir haben einen Löwen aus einem rumänischen Zoo nach Lionsrock gebracht und als wir dort seine Transportkiste öffneten, traute er sich nicht, auf das Gras zu steigen – er kannte das überhaupt nicht, musste sein Leben lang auf Beton dahinvegetieren. Es dauerte einige Wochen, bis er begriff, dass das nun sein neues Zuhause war." Man sieht, dass Dungler diese Erinnerung gleichzeitig glücklich und traurig macht, und so ist sein Wunsch für die Zukunft nur zu gut verständlich: "Ich wünsche mir, dass sich alle Ziele, die wir uns gesetzt haben, rasch erfüllen und die ‚Vier Pfoten‘ sich auflösen können. Denn erst wenn man keine Tiere mehr schützen muss, weil sie artgerecht und unverfolgt leben können, dann ist die Welt für mich in Ordnung."

Artikel erschienen im "Wiener Journal" vom 8. März 2013