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Klettertraining im Uterus

Von Kerstin Viering

Wissen

Unmittelbar nach der Geburt müssen Känguru-Babys Höchstleistungen zeigen.


Berlin. Das Tierchen sieht nicht aus, als könne es schon in ein paar Tagen geboren werden. Zu winzig, zu wenig entwickelt - eher ein Embryo als ein fertiges Känguru. Von den kräftigen Hinterbeinen seiner Verwandtschaft fehlt jede Spur. Doch dafür hat das kleine Tammar-Wallaby schon erstaunlich große Arme. Und die weiß es zu nutzen: Schon drei Tage vor seiner Geburt fuchtelt es damit herum, als wolle es einen Berg erklimmen. Oder zumindest ein Stück vorwärts robben.

Barbara Drews vom Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) gehört zu den ersten Menschen, die solche Szenen aus der Känguru-Gebärmutter zu Gesicht bekommen haben. Gemeinsam mit australischen Kollegen der Unis Melbourne und Sydney ist es IZW-Forschern erstmals gelungen, die Schwangerschaft von lebenden Beuteltieren per Ultraschall zu verfolgen. Ihre Beobachtungen schildern sie im Fachjournal "Scientific Reports".

"Wir wollen besser verstehen, wie sich die Trächtigkeit von Beuteltieren und anderen Säugern unterscheidet", erläutert Drews das Ziel. Dass es Unterschiede geben muss, ist längst bekannt. Denn anders als die sogenannten Plazenta-Tiere, zu denen die meisten anderen Säugetiere und der Mensch gehören, bringen Beuteltiere ihren Nachwuchs in einem sehr frühen Entwicklungsstadium zur Welt. Was da nach wenigen Wochen Tragezeit aus der Geburtsöffnung kommt, hat noch keine Ähnlichkeit mit einem Känguru oder Koala. Das Neugeborene krabbelt in den Beutel seiner Mutter, hängt sich an eine ihrer Zitzen und wächst erst dort im Laufe der Monate zu einem voll ausgebildeten Jungtier heran.

Was aber vorher alles im Mutterleib vor sich geht, wusste niemand so genau. Und so setzten die Wissenschafter auf eine Überwachung der Schwangerschaft mittels Ultraschall. Die passenden Beuteltiere fanden sich in einer Feldstation der Universität Melbourne. Seit Jahren halten Forscher dort die kleinen Tammar-Wallabys, die mit einem Gewicht von drei bis vier Kilogramm etwa so groß sind wie ein Feldhase.

Sonde aus der Gynäkologie

Erst einmal gefangen, wurde den Kängurus ein leichtes Beruhigungsmittel verabreicht. Von einem Känguru ein gutes Ultraschallbild zu machen, ist eine Herausforderung. Bei anderen Tieren rasiert man das Bauchfell, um das Gerät aufsetzen zu können. Doch der neugeborene Känguru-Nachwuchs braucht die Haare seiner Mutter, um sich in die Bauchtasche zu hangeln. Also mussten die Forscher das Untersuchungsgerät in den Beutel schieben, um die haarlose Haut im Inneren zu erreichen. Und dafür eignete sich am besten eine Vaginalsonde aus der Frauenarzt-Praxis.

Zwanzig werdende Wallaby-Mütter haben die Forscher auf diese Weise untersucht. Sich per Ultraschall in einem Känguru zu orientieren, ist dabei gar nicht so einfach. Immerhin besitzen die Tiere zwei Gebärmütter und drei Vaginas. Doch die Mühe hat sich gelohnt: Drews und ihre Kollegen konnten live miterleben, wie sich eine nur 1,5 Millimeter große, mit Flüssigkeit gefüllte Zellkugel zu einem geburtsreifen Känguru entwickelt - und das in nur 26 Tagen. Die Tiere halten dabei einen strikten Zeitplan ein. Von einem Weibchen zum nächsten gibt es kaum Abweichungen, sodass die Forscher den Geburtstermin inzwischen auf einen halben Tag genau vorhersagen können.

Während der Trächtigkeit spielen sich in der Gebärmutter der Tiere exzentrische Szenen ab, die möglicherweise auch für andere Beuteltiere typisch sind. So haben die Forscher beobachtet, dass sich die Gebärmutter immer wieder stark zusammenzieht und den Embryo dadurch hin und her rollt. Derart heftige Bewegungen gibt es bei Plazentatieren nicht, sie unterdrücken solche Kontraktionen durch das Hormon Progesteron. Schließlich soll sich der Embryo ungestört in die Gebärmutterschleimhaut einnisten können.

Anschließend bildet sich die Plazenta, die den ungeborenen Nachwuchs versorgt. Beim Känguru passiert das alles aber erst im letzten Drittel der Trächtigkeit. Da stört das vorherige Herumrollen nicht - im Gegenteil: Möglicherweise lässt sich der Embryo so besser ernähren, weil er immer wieder in Kontakt mit frischen Gebärmuttersekreten kommt. Vielleicht fördert die Bewegung auch den Gasaustausch zwischen den Zellen und ihrer Umgebung. So ganz klar ist das noch nicht.

Keine Hilfe von der Mutter

Viel leichter sind dagegen die Armbewegungen zu deuten, mit denen die kleinen Kängurus schon am dritten Tag vor ihrer Geburt beginnen. Offenbar handelt es sich dabei um eine Art Klettertraining. "Auch andere Tiere bereiten sich schon im Mutterleib auf die ersten Herausforderungen nach der Geburt vor", sagt Drews. Affen und Menschen etwa saugen an ihrem Daumen. Und kleine Delfine machen schon in der Gebärmutter Schwimmbewegungen. Allerdings sind alle diese Arten zu diesem Zeitpunkt schon deutlich weiter entwickelt als der Beuteltier-Nachwuchs.

Doch offenbar bleibt ihnen nichts anderes übrig. Gleich nach der Geburt müssen die winzigen rosa Würmchen, die nicht einmal ein halbes Gramm wiegen, selbständig bis zur Zitze krabbeln. Nur wenn sie das schaffen, können sie überleben - die Mutter hilft ihnen nicht. "Känguru-Mütter investieren nach der Geburt noch viel in ihren Nachwuchs", erläutert Drews einen möglichen Hintergrund dieses Verhaltens. Beim Tammar-Wallaby hängt das Jungtier neun Monate an der Zitze, bis es voll entwickelt ist. Da will die Mutter vielleicht sichergehen, dass sich der Aufwand auch lohnt und das Kleine gute Überlebenschancen hat. Die Kletterpartie wäre dann eine Art Bewährungsprobe. Da kann ein frühzeitiges Training der nötigen Muskeln lebenswichtig sein.