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Ein Verlust an Schönheit

Von Edwin Baumgartner

Wissen

Das Nützlichkeitsdenken verstellt den Blick auf die Realität.


"Haben Sie ein paar Minuten Zeit?" Die junge Frau, die mich eben auf der Mariahilferstraße im Auftrag einer Umweltschutzorganisation angesprochen hat, ist außergewöhnlich attraktiv. Das Konzept muss schließlich funktionieren: Die (hübschen) Frauen sprechen die Männer an, die (feschen) Männer die Frauen. Sex sells, auch Regenwaldgrundstücke, Wale, Bären und sonst noch so einiges, das im schlechtesten Fall den Lauf der Welt nicht ändert und im besten beim Käufer oder Spender ein gutes Gewissen verursacht.

Natürlich sind die (wie gesagt hübschen) Frauen und die (wie gesagt feschen) Männer keine herzblutvergießenden Überzeugungstäter. Sie machen einen bezahlten Job, und das ziemlich professionell, mal für Greenpeace, mal für Vier Pfoten, dann für eine dritte oder vierte Organisation dieser Art. Und diese Professionalität ist es auch, die den angesprochenen Passanten verstimmt, weil er weiß, die (also nochmals: feschen) Männer sind nicht jene, die im Schlauchboot den Walfangschiffen vor dem Bug kreuzen, und die (also nochmals: hübschen) Frauen sind nicht jene, die sich im Urwald, dort wo es Schlangen und Spinnen en masse gibt, an Hartholzbäume ketten. Irgendwie geht einem dieser ganze Umweltschutz plus die Bald-ist-Weltuntergang-wenn-wir-nichts-ändern-Stimmung nur noch auf die Nerven.

In der Zeit, die Sie brauchten, um bis hierher zu lesen, wurden 25 Hektar Regenwald zerstört. Das entspricht einer Fläche von etwa 35 Fußballfeldern. Das heißt, pro Sekunde wird eine Regenwald-Fläche von der Größe eines halben Fußballfeldes vernichtet.

Die Umweltschutzorganisationen mögen nerven, ihr mehr oder weniger trickreiches Spendenkeilen mag lästig sein, man mag sogar eine echte Aversion gegen sie entwickeln, und findige Experten, deren Studien von diversen globalen Riesenunternehmen finanziert werden, mögen glasklar Fehler und Übertreibungen nachweisen. Aber unter dem Strich steht selbst dann immer noch: Der hemmungslose Raubbau an der Erde ist eine der großen Krisen unserer Gegenwart. Das Problem ist die Argumentation.

Viele Umweltschutzorganisationen (um nicht zu sagen: die meisten), machen nichts Anderes als die Großunternehmen: Sie geben Studien in Auftrag, die einen bestimmten Zweck verfolgen und bereiten Tatsachen entsprechend den eigenen Interessen auf.

Zum Beispiel ist, entgegen allen Behauptungen, der Regenwald nicht der größte Sauerstoffproduzent der Erde - die hat nämlich keine grüne, sondern eine blaue Lunge in Form der Cyanobakterien (Blaualgen) im Meer. Inwieweit der Regenwald die grüne Lunge darstellt, ist unter Wissenschaftern umstritten: Errechnen ihr die einen ungefähr 20 bis 30 Prozent der Sauerstoffproduktion, winken die anderen ab, weil sie die Photorespiration in ihre Kalkulation miteinbeziehen. Soll heißen: Pflanzen erzeugen mittels der Photosynthese nicht nur Sauerstoff, sie verbrauchen ihn auch. Der Nettogewinn an Sauerstoff ist individuell abhängig vom Lichtkompensationspunkt, jener Lichtintensität, bei der die Sauerstoffproduktion und der Sauerstoffverbrauch einer Pflanze einander die Waage halten. Philip Stott etwa, Professor für Biogeographie an der "School of Oriental and African Studies" der Universität London, geht so weit zu behaupten, dass der Regenwald nicht den geringsten Sauerstoffgewinn abwirft und spricht ihm auch jegliche Bedeutung für das Weltklima ab.

Problem Brandrodung

Die Regenwald-Rodung erzeugt indessen tatsächlich zwei Klimastörungen, die von den Umweltschutzorganisationen jedoch selten angeführt werden - vielleicht, weil eine davon gar so absurd anmutet: Gerodet werden die Regenwälder, um Weideland zu gewinnen. Rinder jedoch sind durch ihre verdauungsbedingten Methanproduktion Klimasünder. Ihr Schadstoffausstoß entspricht ungefähr dem eines Personenautos. Was freilich Anita Idel, Tierärztin und Mitbegründerin der Gesellschaft für Ökologische Tierhaltung, nicht unwidersprochen lässt: Sie plädiert für die Kuh, allerdings hat sie eine ökologisch verträgliche Landwirtschaft im Sinn, nicht eine Massentierhaltung auf riesigen Flächen.

Bei der Vernichtung der Regenwälder wird außerdem Brandrodung betrieben. Die großflächigen Feuer - und das kann nun tatsächlich niemand wegdiskutieren - erwärmen die Luft und geben ein Übermaß an CO2 ab: Der UN-Klimarat (IPCC) geht davon aus, dass die Brandrodung der tropischen Regenwälder mit ihrem CO2-Ausstoß zwischen 10 und 20 Prozent zum weltweiten Treibhauseffekt beiträgt.

Es wird also wärmer auf der Welt, auch wenn die Wissenschafter nicht übereinstimmen, ob der Mensch daran schuld ist oder ein natürlicher Klimazyklus, die Eisberge der Arktis und der Antarktis schmelzen - damit, das behaupten nahezu alle einschlägigen Umweltschutzorganisationen ausnahmslos, steigt der Wasserspiegel. Womit sie die Gesetze der Physik umschreiben. Denn Wasser hat in flüssigem und gefrorenem Zustand dieselbe Masse. Schmilzt ein Eisberg, nimmt die Masse des Wassers nicht zu, der Pegel verändert sich um keinen Millimeterbruchteil. Das kann man in einem Experiment überprüfen: Bitte einen Eiswürfel in ein Glas Wasser legen und beobachten, ob der Wasserspiegel beim Schmelzen des Eiswürfels steigt.

Etwas Anderes ist es mit den landgebundenen Eismassen. Geraten sie ins Meer, ist das tatsächlich ein Massezuwachs, der durchaus neue Küstenlinien zeichnen und London zum Venedig Westeuropas machen könnte.

Mit relativer Sicherheit würde das Abschmelzen des Arktis-Eises zum Aussterben der Eisbären führen. Das Verschwinden einer Tierart ist immer bedauerlich - aber nicht jedes Mal ist es tatsächlich die stets beschworene ökologische Katastrophe. Der Eisbär ist etwa 500.000 Jahre alt und damit, auch wenn ihn manche Forscher um 400.000 Jahre älter machen, eine junge Spezies. Die Robben können auf eine rund 20 Millionen Jahre alte Vergangenheit zurückblicken. Wenn man argumentiert, das Aussterben der Eisbären würde zu einer Katastrophe führen, weil der natürliche Regulator der Robbenpopulation wegfiele, dann möge man erklären, wieso die natürliche Regulation der Robbenpopulation die Kleinigkeit von rund 20 Millionen minus 500.000 bis 900.000 Jahre tadellos funktioniert hat.

In Wahrheit spielen die Naturschutzorganisationen das Spiel des Nützlichkeitsdenkens, dem sie eigentlich widersprechen wollen, hemmungslos mit: Jeder Spezies wird zugestanden, dass es ohne sie nicht geht, und dass ihr Verschwinden eine ökologische Katastrophe auslöst. Bei einigen Spezies ist das tatsächlich der Fall (etwa beim Hai), während das Aussterben anderer nur einen partiellen Einschnitt bedeutet.

Mut zum Umdenken

Es braucht indessen Mut, sich vom Nützlichkeitsdenken und den damit zusammenhängenden Ökokatastrophen-Argumenten zu verabschieden und stattdessen zu argumentieren, dass es um jede Spezies um ihrer selbst willen schade ist, weil etwas Schönes unwiederbringlich verloren geht. Anders gesagt: Das Aussterben des Eisbären würde keine ökologische Katastrophe bedeuten, aber eine Welt mit Eisbären ist schöner als eine Welt ohne Eisbären. Es ist nicht einzusehen, dass der Mensch, der in seinem Streben nach Schönheit zwar nutzlose Kunstwerke verehrt, die Natur jedoch nur nach ihrer Nützlichkeit beurteilt.

Die Fälle von tatsächlich katastrophalem Raubbau an der Natur werden indessen längst als gegeben hingenommen: Der Aralsee etwa, der zu Kasachstan und Usbekistan gehört, leidet unter der zu Sowjetzeiten von Stalin eingeführten und heute noch gesteigerten Baumwollproduktion auf den umliegenden Gebieten: Die zur Bewässerung nötigen Unmengen von Wasser werden den Zuflüssen Amudarja und Syrdarja entnommen, mit dem Ergebnis, dass der Aralsee von rund 68.000 Quadratkilometern auf 29.630 Quadratkilometer geschrumpft ist.

Der in den 1960er-Jahren gebaute Assuanstaudamm in Ägypten wiederum fängt nach wie vor den Nilschlamm auf, den die Bauern mit chemischem Dünger ersetzen müssen. Für China war es keine Lehre, denn der Drei-Schluchten-Damm wird eine ähnliche Problematik verursachen, während die Umleitung des Jangtsekiang ein ideologisches Prestigeprojekt ist, mit dem die Kommunistische Partei zeigen will, dass die Natur der Planung des Menschen unterworfen ist. Die Auswirkungen auf die natürlichen Wasseradern Chinas sind unabsehbar.

Wobei sich nun aber doch die Frage aufdrängt: Für sich genommen führt zwar keine der genannten und der Tausenden und Abertausenden ungenannten Umweltsünden zur globalen Katastrophe - kann nicht, wenn der Papiersack übervoll ist, auch das kleinste Steinchen ihn platzen lassen? Abgesehen davon, ist eine Welt mit Regenwald schöner als eine Welt ohne Regenwald.

Von dem übrigens, nur während der Lektüre dieses Artikels, die Fläche von etwa 248 Fußballfeldern, verschwunden ist.