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Fabrikanten auf sechs Beinen

Von Kerstin Viering

Wissen
Enzyme der Wespe könnten für die Produktion von Biotreibstoff interessant sein.
© Moritz Ziegler

Insekten produzieren eine große Palette von Substanzen, die für medizinische oder industrielle Anwendungen interessant sind.


Gießen/Jena. "Von Insekten lernen, heißt siegen lernen". Damit fasst Andreas Vilcinskas gern das Grundprinzip seiner Arbeit zusammen. Der Biologe leitet das LOEWE-Zentrum für Insektenbiotechnologie in Gießen, in dem Forscher den Geheimnissen der Sechsbeiner auf der Spur sind. Schließlich haben diese Tiere im Laufe ihrer Evolution eine ganze Reihe von nützlichen chemischen und biologischen Erfindungen gemacht.

In ihren Körpern finden sich Stoffe, die Krankheitserreger bekämpfen, Fleisch konservieren oder Holz abbauen können. Effekte, die auch aus menschlicher Sicht interessant sind - sei es für die Medizin oder industrielle Anwendungen. Die Insektenwelt steckt also voller neuer Ideen. Und die wollen die Gießener Forscher in praktisch nutzbare Produkte und Dienstleistungen verwandeln.

Artenvielfalt der Moleküle

Mehr als eine Million unterschiedliche Insekten haben Forscher schon beschrieben, wahrscheinlich gibt es deutlich mehr. Der Biologe ist überzeugt, dass sich diese Artenvielfalt auch auf der Ebene der Moleküle widerspiegelt. Dazu gilt es aber erst einmal, die vielversprechendsten Substanzen ausfindig zu machen. Und das ist gerade wegen der schwer überschaubaren Vielfalt der Tiergruppe gar nicht so einfach. Also betrachtet das Team um Vilcinskas die Welt zunächst einmal aus der Insektenperspektive: Wo kommt eine Art vor? Auf welchen Lebensstil hat sie sich spezialisiert? Vor welchen Herausforderungen steht sie dabei? Die Antworten liefern oft wertvolle Hinweise darauf, für welche Probleme eine Art im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte eine Lösung gefunden haben muss.

Wer nach neuen Antibiotika sucht, kann sich bei den Bewohnern von Lebensräumen umsehen, die besonders mit Mikroben belastet sind. Der Nachwuchs der zu den Schwebfliegen gehörenden Mistbiene ist vielversprechend. Denn diese sogenannten Rattenschwanzlarven leben als einzige Tiere nur in Jauche- und Güllegruben. Dort gibt es zwar kaum Konkurrenten, die ihnen das Leben schwer machen könnten. Dafür aber viele Krankheitserreger.

"Also müssen diese Tiere ein Top-Immunsystem haben", folgert Vilcinskas. Tatsächlich hat er schon im ersten Anlauf 19 Abwehrwaffen entdeckt, mit denen sich Rattenschwanzlarven gegen Bakterien wehren. Die Forscher sind nun dabei zu testen, wie gut diese Substanzen gegen für Menschen gefährliche Erreger wirken.

Ein weiteres Lieblingstier der Forscher ist der Asiatische Marienkäfer. Der lebt zwar nicht in unhygienischem Terrain, hat sich aber einen Namen als erfolgreicher Invasor gemacht. Seit der aus Zentralasien stammende Blattlausfresser im 20. Jahrhundert zur Schädlingsbekämpfung in Europa und Nordamerika eingeführt wurde, hat er sich rasant ausgebreitet. Was aber macht ihn so erfolgreich?

Abwehrwaffe Harmonin

"Eine Theorie besagt, dass invasive Arten ein besonders effektives Immunsystem haben müssen", erläutert Vilcinskas. Sie sind immer wieder mit neuen Erregern und Parasiten konfrontiert. Im "Hämolymphe" genannten Blut des Käfers haben die Forscher eine chemische Abwehrwaffe entdeckt, die europäischen Zwei- und Siebenpunkt-Marienkäfern fehlt. Um die Wirkungen dieser "Harmonin" genannten Substanz genauer untersuchen zu können, brauchten die Molekül-Fahnder erst einmal genügend große Mengen davon. Also hat ein Team um Wolfgang Boland vom Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena ein Verfahren entwickelt, mit dem sich der Käfer-Wirkstoff im Labor synthetisieren lässt.

Im Labor wirkt Harmonin nicht nur gegen Tuberkulose-Bakterien, sondern auch gegen verschiedene Parasiten. Den Malaria-Erreger kann es im Gegensatz zu heutigen Arzneien sogar in verschiedenen Stadien seiner Entwicklung bekämpfen. Nun sollen auf Basis des Harmonins Stoffe für die Medizin entwickelt werden.

Die Forscher haben in der Hämolymphe des Käfers auch noch mehr als 50 Peptide gefunden, die gegen Bakterien und Pilze wirken. So viele kennen Immunbiologen bisher bei keiner anderen Tier- oder Pflanzenart. Wenn Erreger Harmonin überwunden haben, schaltet der Marienkäfer die Produktion dieser Substanzen offenbar als zweite Abwehr ein. In Zusammenarbeit mit der Firma Sanofi in Frankfurt Hoechst sollen aus solchen Naturstoffen neue Antibiotika entstehen.

Ein neues Medikament zu entwickeln, kann zehn bis 15 Jahre dauern. Deutlich schnellere Erfolge werden bei der Entwicklung von Insektenprodukten für den industriellen Einsatz erwartet. Auch da hat Vilcinskas schon etliche Sechsbeiner im Visier. Etwa den Totengräberkäfer, der tote Mäuse oder Vögel orten kann.

Biotreibstoff und Co.

Ist so ein Käfermännchen fündig geworden, lockt es ein Weibchen an und sie vergraben die Beute als Nahrung für den künftigen Nachwuchs. Danach rasieren sie die tote Maus mit den Mundwerkzeugen und behandeln sie mit Speichel. Darin wurden mehr als 30 zersetzungshemmende Substanzen gefunden. Schließlich soll der Kadaver halten, bis die Larven fressbereit sind. Ist es so weit, geben die Käfer-Eltern mit dem Speichel Enzyme ab, die das Fleisch für den Nachwuchs vorverdauen. Neben neuen Konservierungsstoffen kann der Totengräber vielleicht auch biochemische Werkzeuge für die Beseitigung von Schlachtabfällen liefern.

Überhaupt sind Insekten sehr kreativ, wenn es um den Abbau geht. Termiten, holzfressende Käfer und Wespen leben mit Pilzen, die spezielle Enzyme liefern. Mit deren Hilfe gelingt es den Tieren, auch widerstandsfähige Pflanzenbestandteile wie Cellulose oder Lignin zu zersetzen. Dies könnte für die Produktion von Biotreibstoffen interessant sein.

Kleidermotten brauchen für ihr Zerstörungswerk Enzyme, die das Keratin in Haaren zersetzen. Auch die lassen sich womöglich industriell verwenden, um Leder weich zu machen. Und wer glutenfreie Lebensmittel herstellen will, kann sich Anregungen bei Getreidefressern holen. All diese Insekten mit ihren Talenten kommen vor unserer Haustür vor. Man muss nur hinschauen.