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Gefiederte Einzelwesen

Von Walter Sontag

Reflexionen

In der Ornithologie gibt es einen Trend zur individualisierten Vogelkunde, bei der nicht mehr "arttypisches Verhalten" im Vordergrund steht, sondern die repräsentative Persönlichkeit.


Jeder Vogel hat ein persönliches Schicksal - so auch dieses Starenmännchen.
© Christoph Roland

Zu den Vergnügungen der Antike gehörte es, Singvögeln dabei zuzusehen, ob und wie sie von ihrem Sitzplatz aus an einem Faden herunterhängende Futterstücke zu sich befördern. Seit je beschäftigen Vögel die Phantasie und Sinne des Menschen. Kultur- und kontinentübergreifend rankten sich um sie mannigfache Mythen und Geschichten. Ikonen dieses Zaubers kennen wir von überall: die Nachtigallenstimme in unseren Breiten, den bunten Federschmuck im alten Amerika und in Papua, das Abrichten der Falken im arabischen Raum, die Rabenintelligenz im Geisteskosmos der nordischen Völker. Ganz offensichtlich ist es nicht allein ihre Fähigkeit zu fliegen, die die menschlichen Betrachter bis in die Gegenwart in den Bann zieht.

So ist die Alltagssprache voll von Verweisen auf unsere gefiederten Begleiter. Begriffe wie Vogelperspektive, Anspielungen in der Werbung, in Filmen und Buchtiteln zeugen davon. Demnach stehen Vögel, gerade auch heutzutage, hoch im Kurs. Das erscheint paradox, sieht es doch in der realen Welt um ihren Fortbestand düster aus. Lebensraumverlust, Klimawandel und die zivilisationsbedingte Ausbreitung einiger dominierender Organismen bedrohen ihre Vielfalt.

Biomathematik

In unserem Kulturraum verfasste bereits der Stauferkaiser Friedrich II. (1194-1250) mit dem ersten Band eines siebenteiligen Werks eine eindrucksvolle Ornithologie. Sein Werk "De arte venandi cum avibus" ging weit über die im Titel versprochene Darstellung der Falknerei hinaus, stellte es doch in Wahrheit eine regelrechte Einführung in das Gesamtgebiet der Vogelkunde dar.

Jahrhunderte später folgten John Ray, Freiherr F. A. von Pernau und Johann Friedrich Naumann, der mit seiner zwölfbändigen "Naturgeschichte der Vögel Deutschlands" (1820-1844) einen fulminanten Meilenstein setzte. Darwin stellte bald darauf die "alles" und damit auch die Ornithologie umfassende Deszendenztheorie (Abstammungslehre) vor, und im 20. Jahrhundert ging es dann Schlag auf Schlag.

Der Vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie) von Heinroth, Lorenz und Tinbergen alle drei überragende Ornithologen folgte die Soziobiologie, die scheinbar selbstlose Verhaltensweisen im Tierreich als eigennützige Handlungsstrategie der Individuen zu erklären suchte. Neuerdings wurde dieser neodarwinistische Ansatz unter dem Einfluss des an der Harvard-Universität lehrenden Biomathematikers Martin A. Nowak einer gründlichen Reform unterzogen.

Schützenhilfe erhielt der Aus-troamerikaner vornehmlich von Karl Sigmund von der Universität Wien, der wie Nowak aus Nieder-österreich stammt. Ihre gemeinsamen Publikationen in "Nature" und "Science" verhalfen der abgewandelten Sichtweise um die Jahrtausendwende zum Durchbruch. Ihre Argumentation fußt auf einem durch und durch mathematisch begründeten Vorgehen. Im Zentrum steht die Kooperation im Tierreich zwischen Individuen (aber auch Gruppen) als erfolgreiches Prinzip der Evolu-
tion, das ungehemmter Aggressivität überlegen und etwa im "Superorganismus" des Ameisenstaats anschaulich verwirklicht ist.

Mit der Ablösung der Ideenwelt des "arttypischen Verhaltens" durch die Soziobiologie ab den 1960er Jahren zog in die Biologie und Ökologie freilich eine neue Unübersichtlichkeit ein. Man kann von einer Neuentdeckung des Einzelwesens, des Individuums, sprechen.

Neben den offenkundigen Besonderheiten der unterschiedlichen Vertreter eines Lebensraums finden sich also auch erhebliche Abweichungen im Verhalten der Angehörigen ein und derselben Spezies und zwar über geschlechts- und altersabhängige Ungleichheiten hinaus. Erfahrungen aus der Vogelhaltung untermauern ebenfalls die Neigung zu großer innerartlicher Mannigfaltigkeit. Papageienhalter etwa können von den Eigenwilligkeiten ihrer Pfleglinge ein Lied singen.

Auf den Punkt gebracht: Die Individuen repräsentieren Persönlichkeiten. Ihre Lebensentwürfe unterscheiden sich und lassen sich kaum je vollkommen in das Korsett simpler Artkonzepte zwängen.

Beispiel "Fadenziehen"

Als anschauliches Beispiel mag das erwähnte "Fadenziehen" dienen. Moderne Forscher vollzogen den Zeitvertreib der Antike nach. Dabei fiel ihnen auf, wie ungleich nicht nur Vögel unterschiedlicher Arten mit dieser Herausforderung umgingen, sondern auch artgleiche Vertreter, etwa verschiedene Stieglitze oder Erlenzeisige. Offenbar verfügt ein Teil dieser Finkenvertreter über die Fertigkeit gewissermaßen spontan. Andere Individuen zeigen dieses sogenannte "Schöpfen" erst, nachdem es Artgenossen vorgemacht haben. Aber viele Stieglitze und Zeisige lassen ein derartiges Verhalten selbst dann vermissen.

Auch aus dem natürlichen Lebensraum finden sich zahllose Beispiele für individuelle Strategien. Einen eleganten Beleg dafür lieferten kürzlich Untersuchungen an Möwen und Austernfischern der Nordseeküste. So holten sich einige der mit GPS-Datenloggern versehenen Lach- und Silbermöwen die Nahrung in Nestnähe in der Gezeitenzone. Andere dagegen wechselten zum gleichen Zweck zwischen weit entfernten Watt- und Binnenlandflächen.

Besonders bemerkenswert erschienen den Forschern solche Vögel, die gezielt Muschelbänke ausbeuteten, auf denen die Amerikanische Schwertmuschel angesiedelt ist. Diese Weichtiere waren erst in den 1970er Jahren ins Wattenmeer gelangt, repräsentieren also Neozoen. Doch bevölkern sie ihren neuen Lebensraum längst in hoher Dichte. Für muschelfressende Vogelarten stellen sie eine reiche Ressource dar - freilich nur für die kurze Phase des Trockenfallens. Was auffällt: Nur bestimmte Individuen der Austernfischer und Silbermöwen bedienten sich an dem regelmäßig wiederkehrenden Schlaraffenland.

Die Vorteile voneinander abweichender Lebensentwürfe liegen auf der Hand. Mit der Auffächerung in unterschiedliche Handlungsweisen und Lebensformen haben die Bewohner eines Lebensraums die Chance, das volle Spek-trum möglicher taktischer und strategischer Nischen auszunutzen. Das Nischenangebot unterliegt freilich ständigem Wandel. Denn selbst in einer vom Menschen unbehelligten Biozönose (Organismengemeinschaft) herrscht niemals völliger Stillstand.

Besondere Risiken ergeben sich für die Vogelwelt gegenwärtig aus den massiven Eingriffen des Menschen in die Ökosysteme rund um den Globus. So sind beispielsweise selbst uns einst vollkommen vertraute Feld- und Wiesenvögel, ja weithin sogar der "Spatz" mittlerweile im Verschwinden begriffen. Geradezu unabsehbar sind die Folgen der weltweiten Erwärmung unseres Planeten. Die damit verbundene Transformation der Lebensräume erweist sich als universale Schicksalsfrage der Organismen, womöglich besonders deutlich ausgeprägt in der Avifauna (die Gesamtheit aller in einer Re-gion vorkommenden Vogelarten). Unausweichlich stehen deren Überlebens- und Fortpflanzungsstrategien auf dem Prüfstand. Dadurch wird der "Einfallsreichtum" der fliegenden Kreaturen neuerlich auf die Probe gestellt. Alle Facetten des Vogellebens sind betroffen: Eigenversorgung, Brutverhalten und Familienleben, die geografische und ökologische Verortung bis hin zu den jahreszeitlichen Wanderungen. In jedem Bereich heißt es, sich neu zu bewähren.

Usutu-Seuche

Bereits eine einzige Abweichung vom gewohnten Rahmen vermag den im umgebenden Wirkungsgeflecht eingebetteten Organismus aus der Bahn zu werfen. Das zeigt der Fall des Usutu-Virus, das erst in diesem Jahrtausend nach Mitteleuropa gelangte. Der ursprünglich auf Afrika beschränkte Erreger verursachte seither vielerorts unter den Amseln ein Massensterben, zum Beispiel in Ostösterreich und am Oberrhein. Das Virus wird durch gewisse Stechmücken übertragen.

Offenbar findet es aufgrund der Klimaerwärmung nun auch in unseren Breiten für seinen Lebenszyklus günstige Bedingungen vor. Zahllose Amseln ließen ihr Leben; doch rückten andere Individuen nach, von denen viele eine Immunität entwickelt haben dürften. Allerdings ist es ein purer Mythos zu glauben, dass derlei Verwerfungen stets glimpflich verlaufen.

Exemplarisch wirft die Usutu-Seuche ein Schlaglicht auf das Bukett der Abhängigkeiten, denen das einzelne Tier in seiner Umwelt unweigerlich ausgesetzt ist: die klimatischen und geophysikalischen Umgebungseigenschaften, das Nahrungsangebot, die weite Vielfalt der belebten Umwelt, also Artgenossen, Symbionten, Parasiten und Beutegreifer und so fort.

Zwischen diesen "Einflussgrößen" muss sich der einzelne Vogel mit seiner einzigartigen genetischen Ausstattung behaupten. Unumschränkt und allseits gültige Erklärungsmodelle sind da kaum zu erwarten. Demgemäß betrachtet die moderne Biologie das Vorgehen eines Tieres bzw. die Dynamik einer Population nicht allgemein, sondern in Abhängigkeit von (den jeweils herrschenden) äußeren Bedingungen.

Mit dieser Betrachtungsweise schließt sich der Kreis zu einer individualisierten Vogelkunde. Kontrastierende Lebensstrategien können innerhalb einer Art zum Zug kommen - und umgekehrt gleiche oder ähnliche Handlungsvarianten bei verschiedenen, womöglich ähnlichen Spezies. Was macht aber dann eine Art überhaupt aus?

Radikale Neuordnung

Je nach Standpunkt und Methodik geben Wissenschafter darauf unterschiedliche Antworten. Dabei kommt vor allem auch die moderne Molekulargenetik zum Zug. Wie auch immer die fachlichen Fronten verlaufen: Insgesamt unterliegen Einteilung und Kennzeichnung der Organismenvielfalt einer umfassenden, teilweise radikalen Neuordnung. Damit erhält die nahezu schon tot geglaubte Systematik neuen, überraschenden Schwung. Dies wiederum führt zur massiven Aufwertung der Museen, die reiche Archive der Formenvielfalt beherbergen.

Eine weitere Facette ist ebenfalls Teil der Vogelkunde, nämlich die des Menschen: Homo sapiens und Vogel haben auch eine gemeinsame Geschichte. So hat die Erforschung der Ornis mit der Hingabe zahlloser Menschen zu tun, mit ihrer Neugier und Phantasie - und vor allem ihrem Fleiß. Sprichwörtlich stehen dafür Giganten wie etwa Oskar Heinroth, Niko Tinbergen und Ernst Mayr.

Doch das breite Fußvolk bilden die Hobbyornithologen - modern Birder genannt, d. h. oft nahezu namenlose Amateure im besten Sinn. Aber wird ihnen in unseren totgepflegten Vorgärten, glattgestylten Agrosteppen und geschundenen Restwildnissen eine Zukunft bleiben?

Walter Sontag, geboren 1951 in Mainz, ist promovierter Zoologe und schreibt als freier Autor über biologische, ökologische und kulturelle Themen; lebt in Wien.

Der Text ist eine gekürzte und leicht abgewandelte Fassung des einleitenden Kapitels aus dem Buch "Gefiederte Lebenswelten. Das endlose Band der Ornithologie" von Walter Sontag, MediaNatur Verlag, Minden 2016, 416 Seiten, zahlr. Abb., 34,80 Euro.

Am 24. Jänner stellt der Autor sein Buch vor: 17.15 Uhr, HS 2, Karl Burian HS, UZA1, Biologiezentrum, 1090 Wien, Althanstr. 14.