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Das Größte und das Kleinste

Von Eva Stanzl

Wissen
Die rätselhafte Erdanziehung hat den Menschen schon auf allerlei Ideen gebracht.
© Fotolia/freefly

Jeder Gegenstand fällt nach unten. Doch obwohl sie so augenscheinlich ist, bereitet die Schwerkraft Physikern Kopfzerbrechen. Denn es gibt keine einheitliche Theorie, mit der sie sich berechnen lässt, sondern nur Gesetze für große Objekte und winzige Teilchen.


Wien. Menschen gehen und stehen am Boden, alles fällt nach unten. Flugzeuge benötigen Unmengen an Energie, um abzuheben, Raumschiffe enorme Antriebe, um die Erdanziehung zu überwinden und ins All zu starten. Dort wiederum wird das Licht ferner Sterne von der Gravitation der anderen abgelenkt.

Keine Kraft ist so gut sichtbar wie die Schwerkraft. Dennoch lässt sie sich nicht immer leicht berechnen. Vielmehr widersetzt sie sich dem Nachweis durch eine einheitliche Theorie, die die Physik winziger Teilchen, großer materieller Objekte und der Himmelskörper gleichermaßen beschreibt. "Die Schwerkraft ist die Katurkraft, die den Wissenschaftern am meisten Kopfzerbrechen bereitet", sagt es der Wiener Physiker Florian Aigner von der Technischen Universität (TU) Wien.

Astronomen messen Gewicht eines Sterns über Gravitation

Die Natur kennt vier Kräfte. Elektromagnetische Kraft sowie starke und schwache Wechselwirkung gelten in der Atom- und Kernphysik als gut verstanden, zumal sie im Standardmodell der Physik, das die wesentlichen Erkenntnisse der Teilchenphysik nach heutigem Stand zusammenfasst, gut berechenbar sind. Nur die vierte Kraft, die Schwerkraft, passt nicht ganz ins Bild. Mathematisch lässt sie sich weniger leicht beschreiben.

Newtons Gravitationsgesetz, nach dem jeder Massenpunkt auf jeden anderen Massenpunkt mit einer anziehenden Gravitationskraft einwirkt, erlaubt es uns zwar, wunderbar auszurechnen, wo ein fallengelassener Kugelschreiber landen wird. Die Formel des britischen Physikers ist grundlegend für die Schwerkraft der Erde, den Mondumlauf und die Planetenbewegungen um die Sonne. Um die großen Skalen des Universums mit seinen Sternen und Galaxien zu erklären, bedarf es hingegen Albert Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie. "Gravitation ist ein Symptom der Geometrie des Universums, die darauf beruht, dass Raum und Zeit verbogen sind", erklärt Aigner. Bei den anderen Kräften stelle man sich Raum und Zeit als starre Bühne vor, auf der sie stattfinden. Die Bühne der Schwerkraft sei hingegen beweglich, weil sie Raum und Zeit selbst verbiegt.

Die Konsequenz sind Situationen, in denen sich selbst Lichtwellen nicht auf gerader, sondern gekrümmter Bahn fortbewegen. Eine Vorhersage der Relativitätstheorie ist der Gravitationslinseneffekt: Wenn ein Lichtstrahl an einem sehr schweren Körper mit sehr hoher Anziehungskraft vorbeizieht, wird er abgelenkt. Obwohl Photonen masselos sind und normalerweise nicht auf die Schwerkraft reagieren, verfolgen sie in einem durch die Schwerkraft verbogenen Umfeld von Raum und Zeit ebenfalls eine gekrümmte Bahn. Diesen Gravitationslinseneffekt, wie er es nannte, beobachtete Einstein erstmals während einer Sonnenfinsternis 1919: Die Position von Sternen nahe dem Rand der verdunkelten Sonne erschien leicht verschoben. Der Physiker wurde für seine Vorhersage gefeiert, ein wesentlicher Teil seines Ruhms gründet auf dieser Beobachtung.

Nicht nur die Sonne kann so die scheinbare Position entfernter Sterne verschieben, sondern auch andere Sterne. Allerdings ist der Effekt dann sehr viel kleiner. Einstein selbst glaubte nicht, dass er sich beobachten lasse, doch genau dies ist US-Forschern um Kailash Sahu vom Space Telescope Science Institute in Baltimore, Maryland, nun gelungen: Sie konnten messen, wie sich die scheinbare Position eines 5000 Lichtjahre entfernten Sterns änderte, als ein 17 Lichtjahre von uns entfernter Weißer Zwerg vor ihm vorüberzog. Ergebnis der Messung: Die Sternposition änderte sich um rund 0,56 Millionstel Grad. Die Astronomen bestimmten die Masse des Weißen Zwergsterns daraus auf 67,5 Prozent der Sonnemasse. "Es ist, als ob man den Stern auf die Waage legen würde", erläutert Sahu: "Die Ablenkung ist analog zur Bewegung der Nadel auf der Waage."

Sterne werden mit Hilfe von Einsteins Relativitätstheorie gewogen, Gravitationswellen wurden jüngst zum dritten Mal gemessen und immer mehr über unser Universum und letztlich unsere gesamte Existenz wird mit immer klügeren Methoden in Erfahrung gebracht. Nur die Gravitation bleibt ein Rätsel. Denn während Forscher es vermögen, immer größere Objekte in seltsame Quantenzustände zu versetzen - etwa konnte der Wiener Physiker Markus Aspelmeyer dies mit einem haarförmigen Festkörper, bestehend aus 100 Milliarden Atomen -, gibt es noch keine Quantentheorie der Gravitation.

Quanten- und Relativitätstheorie

"Wir suchen eine Kombination aus Quantentheorie, die alles Kleine ab den Atomen erklärt, jedoch in materiellen Systemen des Alltags keine nachweisbare Rolle spielt, und der Relativitätstheorie für große Skalen. Beide Theorie-Gebäude funktionieren für sich genommen super. Aber wir schaffen es noch nicht, sie zu einer Theorie für alles zu kombinieren", konstatiert Florian Aigner. Die Physik verhält sich somit wie zwei Suchtrupps, die aus entgegengesetzten Richtungen kommend einen Kontinent erforschen. Wobei einer eine Karte des Nordens und einer einen Plan des Südens hat - wobei von beiden Seiten aus nur erahnt werden kann, wie die Mitte aussieht.

Der Kosmos ist aus winzigen Elementarteilchen kurz nach dem Urknall entstanden. Somit scheint es naheliegend, dass Großes und Kleines verbunden sind, wie etwa die Vertreter der String-Theorie postulieren. Erstaunlicherweise lassen sich sogar manche Himmelsobjekte, etwa Neutronensterne, nur verstehen, wenn man die Quantentheorie mitbedenkt - die nächsten Jahre bleiben nicht nur für Physiker spannend.