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Böse Tiere

Von Edwin Baumgartner

Wissen
Für Viele das personifizierte Böse: der Weiße Hai.
© Olga Ernst - CC 4.0

Wölfe und Haie sind wieder in den Schlagzeilen - die Angst vor großen Raubtieren ist dennoch unberechtigt.


Huh, der Wolf hat zugebissen! Zwar hat er sich nur ein Schaf einverleibt, was seit biblischen Zeiten seine bevorzugte Kost sein dürfte, aber es hätt’ ja auch ein Mensch sein können. Und dann die Hai-Invasion vor Mallorca - einen Weißen Hai hat man gesehen, hochgerechnet auf die mediale Sommerflaute läuft im Meer vor der Insel mindestens siebenhundertdreiundzwanzig von diesen Menschenfressern das Wasser
im Mund zusammen beim Anblick all der Urlauber. Hoffentlich holen sich die Tiere keine Alkoholvergiftung, wenn sie sich an einem Ballermannpartytrinker laben. Was im laufenden Jahr noch fehlt in der Liste der tierischen Menschenfresser, wäre ein Bär. Und ein Krokodil in der Neuen Donau, eventuell der Lindwurm im Wörthersee. Warum soll denn nur Loch Ness sein Ungeheuer haben? - Gleiches Recht auf Scheusale für
alle. Nein, das Herunterspielen der Angst gilt nicht! Angst ist Angst, und Angst ist immer ernst zu nehmen. Auch hier. Aber wie bei allen Ängsten sollte die erste Frage sein, woher sie kommen.

Die ererbte Angst vor den großen Raubtieren

Die Angst vor großen Raubtieren hat der Mensch aus Urzeiten ererbt. Sie resultiert aus dem plötzlichen Umkippen der Nahrungskette. Der Mensch definiert sich als Krone der Schöpfung, was bedeutet, dass er an der Spitze der Nahrungskette steht: Der Mensch bestimmt, welches Tier er zwecks Nahrungsaufnahme oder, je näher wir der Gegenwart kommen, zum Freizeitvergnügen tötet. Allerdings ist der Mensch für solche Begegnungen vorbereitet, er verfügt unter diesen Umständen über die entsprechenden Utensilien, ob das nun seinerzeit Keulen, Speere, Pfeil und Bogen waren, oder, in neueren Zeiten, Schusswaffen und andere Tötungsapparate.

Begegnet der Mensch indessen unvorbereitet einem großen Raubtier, steht die Nahrungskette Kopf. Mensch gegen Wolf, Mensch gegen Bär, Mensch gegen Hai - da spielt es keine Rolle, ob in diesen Fällen Wolf, Bär oder Hai tatsächlich angreifen, es genügt, dass sie angreifen könnten und der Mensch unter diesen Umständen dem Angriff nichts entgegenzusetzen hätte.

Dass es sich um eine aus früher Menschheitsgeschichte geprägte Angst handelt, erkennt man schon daran, dass kaum jemand die gefährlichsten, seinerzeit aber unbekannten Lebewesen fürchtet, nämlich Bakterien. (Die ebenso gefährlichen Viren besitzen keinen Stoffwechsel und fallen daher nicht unter die Definition "Lebewesen".)

Die erzählerische und darstellende Tradition hat die Angst vor den großen Raubtieren weiter genährt. Obwohl es bis heute kaum nachgewiesene tödliche Angriffe von Wölfen auf Menschen gibt, trägt der Wolf im Märchen die Züge des menschenfressenden Monsters. Die vom Linnell-Report des Norwegischen Instituts für Naturforschung im Jahr 2002 veröffentlichten Fakten weisen für die Zeit von 1950 bis 2000 für Europa gerade einmal 59 Wolfsangriffe auf Menschen nach, für 38 davon waren tollwütige, also gleichsam wahnsinnige Tiere verantwortlich. Von den 21 Attacken gesunder Wölfe endeten 4 tödlich. Zum Vergleich: Allein in Deutschland kommt es jedes Jahr zu 30.000 bis 50.000 Beißattacken von Haushunden, von denen bis zu sechs tödlich verlaufen.

"Rotkäppchen" und ähnliche Erzählungen, die scheinbar die Angst vor dem Wolf nähren, wollten den Wolf kaum je als das Tier verstanden wissen, sondern benützen ihn als Synonym für den gewalttätigen Mann. Der Werwolf ist denn auch kein Mensch, der sich bei Vollmond in einen Wolf verwandelt, sondern der in den Mythos transponierte Triebtäter. Für den Ruf des Canis lupus freilich waren diese wie auch immer verpackten Geschichten des Grauens verheerend.

Auch das Wolfsrudel, das im Winter den Schlitten verfolgt, ist im kollektiven Gedächtnis eingebrannt, obwohl eine solche Szene in natura kaum je stattgefunden haben dürfte und eher Kutscherlatein ist als die Wiedergabe von Fakten.

Die Haiangriffe wären dementsprechend Seemannsgarn? - Das nun auch wieder nicht. Haiangriffe hat es immer wieder gegeben, und sie sind nachgewiesen. Es stimmt auch, dass es nach Schiffsunglücken zu Haiangriffen auf die im Wasser treibenden Menschen gekommen ist. Allerdings haben neue Untersuchungen nachgewiesen, dass selbst der für Haiattacken wiederholt als beispielhaft genannten Fall der "USS Indianapolis" nur teilweise zutrifft. Der Schwere Kreuzer der US-Navy wurde 1945 vom japanischen U-Boot I-58 torpediert und versenkt. Eine große Zahl der im Wasser treibenden Schiffbrüchigen soll nach herkömmlicher Darstellung Opfer von Haiangriffen geworden sein. Neuen Untersuchungen zufolge sind die meisten Schiffbrüchigen allerdings durch Erschöpfung, Sonnenstich oder Dehydratation umgekommen, und die Haie fraßen wesentlich öfter die Leichen, als dass sie die lebenden Menschen angegriffen hätten.

Stimmungsmache gegen den Hai

Sowieso passt der Mensch nicht ins Beuteschema des Hais, das naturgemäß dessen maritimer Umwelt angepasst ist. Um es salopp zu sagen: Der Mensch schmeckt dem Hai nicht so besonders, weshalb er dieses Gericht oft schwimmen lässt, sobald er es gekostet hat. Tatsächlich scheint der Hai in den meisten Fällen nach einem Probebiss von seinem menschlichen Opfer abzulassen. Das bezeugt die Statistik. Im Jahr 2017 hat es 88 Angriffe von Haien auf Menschen gegeben, von denen nur 5 tödlich endeten - meistens durch hohen Blutverlust. Der von einem Hai regelrecht aufgefressene Mensch ist die Ausnahme. Und überhaupt: 88 Haiangriffe scheinen viel, doch sie sind zu anderen Tierattacken in Relation zu setzen: Rund 200 Menschen sterben jährlich durch Angriffe von Nilpferden. So scheint also auch im Fall des Hais durch Erzählungen und Bilder vor allem eine Urangst tradiert zu werden, potenziert noch durch die Unheimlichkeit des Meeres, bei dem man als Mensch ohnedies nie weiß, was unter der Oberfläche lauert.

Apropos Meer: Durch Quallen gibt es pro Jahr rund 100 Todesfälle. Dass dennoch der Hai stellvertretend steht für den maritimen Menschenmörder schlechthin und jede vernünftige Aufklärungsarbeit scheitert, hat er nicht zuletzt dem cleveren Thriller des US-amerikanischen Autors Peter Benchley und seiner spektakulären Verfilmung durch Steven Spielberg und den spekulativen Sequels anderer Regisseure zu verdanken: "Der weiße Hai", verstärkt vom Zweitonmotiv des Filmmusikkomponisten John Williams, ist für viele Menschen eine Art Doku mit ein wenig Handlungszutat. Dass dieser Hai freilich mit dem realen Hai ungefähr so viel zu tun hat wie Jules Vernes aggressiver sieben Meter langer Dugong mit einer realen Seekuh, machen sich die wenigsten klar, zu sehr zieht Spielbergs Film in seinen Bann.

In allen Fällen aber gilt eines: Ein Wolf ist ein Wolf, und ein Hai ist ein Hai, und Wolf und Hai sind nun einmal Raubtiere. Einem Prädator vorzuwerfen, wie ein Prädator zu handeln, entspräche, einem Menschen vorzuwerfen, wie ein Mensch zu handeln. Ebenso kann man einem Raubtier nicht vorwerfen, wenn es einen Menschen angreift. Beute zu machen, ist seine Natur. Die Angst vor einer Hai- oder Wolfsattacke freilich ist allein schon aufgrund der Unwahrscheinlichkeit irrational. Und überhaupt: Den fünf im Jahr 2017 von Haien getöteten Menschen stehen jährlich tausende und abertausende von Menschen getötete Haie gegenüber, längst sind viele Arten am Rand des Aussterbens. Da scheint es dann, dass wirklich nicht Wolf und Hai die größten Räuber sind. Zumindest sind sie vernünftig genug, die Welt, die sie zum Leben brauchen, nicht selbst zu zerstören.