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Was wäre Künstliche Intelligenz ohne menschliche Vernunft?

Von Thomas Seifert

Wissen
© Illustration: getty/enjoynz, mehau kulyk/science photo library, victor habbick visions

Bevor die Menschheit den nächsten großen technologischen Sprung hin zur Künstlichen Intelligenz unternimmt, muss es klare ethische Regeln geben, fordern Experten. Eine Debattenskizze.


Wien. Es geht um nichts weniger als die Wiederentdeckung des Menschen in einer Welt der Entfremdung. "Autonome Technologien, wildgewordene Märkte und zu Propaganda-Waffen umfunktionierte Massenmedien haben unsere Gesellschaft auf den Kopf gestellt, lähmen unsere Fähigkeit, konstruktiv zu denken, uns vernünftig zu vernetzen und zielgerichtet zu handeln. Es fühlt sich so an, als würde unsere Gesellschaft auf der Kippe stehen. Es fehlt uns am kollektiven Willen und der notwendigen Koordinierung, um jene Fragen anzugehen, die für das Überleben unserer Spezies unabdingbar sind." So liest sich der erste Absatz von Douglas Rushkoffs neuem Buch "Team Human". Der Autor und Lektor für Medientheorie an der New York University hat für sein Buch das Motto der Hollywood-Filmproduzentenlegende Samuel Goldwyn beherzigt: "Mit einem Erdbeben anfangen und dann ganz langsam steigern." Es muss schon das Ende der Menschheit drohen. Mindestens. Man kann aber Douglas Rushkoff nicht vorwerfen, dass er im Laufe seines Lebens nicht die Nase im Wind gehabt hätte. Mitte der 90er weihte Rushkoff die Welt mit seinem Buch "Gen X-Reader" in die Geheimnisse der Generation X ein und entwickelte sich zu einem der scharfsinnigsten Beobachter der Halbleiterchip-Silizium-Ära, in der wir heute leben.

Rushkoff kritisiert, dass in die Technologien, die das Leben heute bestimmen, von den Märkten und dominanten kulturellen Institutionen, von der Religion über die Gesellschaft bis hin zu den Medien eine antihumanistische Agenda eingebaut ist. Das Internet, das die Menschen eigentlich hätte zueinander bringen sollen - Soziale Netzwerke, Plattformen für Kreativität -, sei zu einem Instrument der Isolation geworden.

Rushkoff ist nicht allein in seinem Kulturpessimismus.

Überwachungskapitalismus

Die US-Wirtschaftswissenschafterin und emeritierte Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Harvard Business School, Shoshana Zuboff, schlägt in dieselbe Kerbe. Sie hat zuletzt ein Buch unter dem Titel "Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus" vorgelegt, in dem sie die Sammlung von personenbezogenen Daten durch Internetkonzerne wie Google und Facebook kritisiert. In diesem Buch hat sie den Begriff Überwachungskapitalismus geprägt. Interessant daran ist der Verweis auf die Entwicklung im Industriekapitalismus. In dieser Ära sei die Massenproduktion perfektioniert worden. Im Überwachungskapitalismus, so Zuboff, werde nun das massenhafte Sammeln von Daten perfektioniert. Zuboffs Urteil: Der "Überwachungskapitalismus zerstöre die innere Natur des Menschen".

Aber auch diesseits des Atlantiks wird derzeit hitzig darüber debattiert, wie der Mensch gegen die Übermacht der Maschine bestehen kann. Der britische Intellektuelle und Buchautor Paul Mason legt mit seinem neuen Buch "Klare, lichte Zukunft" ebenfalls "eine radikale Verteidigung des Humanismus" vor (siehe Interview).

Für Mason ist der Markt zu einem Kontrollorgan geworden, der Kapitalismus, der bislang mit liberalen Freiheitsrechten einherging, sei zu einem Herrschaftsinstrument in den Händen von Leuten wie Wladimir Putin oder Donald Trump mutiert. Die schärfste Kritik hält Mason aber für Xi Jinpings China bereit: China habe mit seinem Sozialkredit-System den umfassendsten antihumanistischen Plan entwickelt. Denn nach Meinung von Mason würde dieses Sozialkreditsystem, das um das Jahr 2020 in China eingeführt werden soll, es ermöglichen, dass jede Institution, jedes Unternehmen, jede Universität und jeder Bürger in einem staatlichen Rating-System erfasst ist und somit nicht nur der staatlichen Kontrolle unterliegt, sondern auch von den Verwandten, Geschäftspartnern, Nachbarn, Kollegen, Kommilitonen und Bekannten bewertet werden kann. Von der Kreditwürdigkeit bis zur Parteiloyalität werde alles aufgezeichnet. "Ein Vertrauensbruch an einer Stelle hat Restriktionen an anderer Stelle zur Folge", ist laut Mason in einem der Dokumente für dieses Sozialkreditsystem zu lesen. In so einem ausgeklügelten System aus Überwachung und vielleicht auch Selbstkontrolle sei der Mensch als autonom handelndes Wesen in Gefahr.

Interessant an der Debatte ist, dass sie sich wie ein anschwellendes Crescendo ausnimmt: Zuerst kritisierten Intellektuelle und Akademiker wie Viktor Mayer-Schönberger, österreichischer Professor am Oxford Internet Institute, die Big-Data-Strategien der Medienkraken und den mangelnden Respekt vor dem Schutz personenbezogener Daten.

Dann wurde in einer Reihe von Essays und Büchern an Neil Postman erinnert, der Mitte der 80er Jahre ein kulturpessimistisches Buch mit dem Titel: "Wir amüsieren uns zu Tode" veröffentlichte, das aber heute eine merkwürdige Aktualität hat. In diesem Buch diagnostizierte Postman einen tiefgreifenden Wandel der US-amerikanischen Kultur von einer inhalts- zu einer unterhaltungsorientierten Gesellschaft.

Das eher von wortlastigen Inhalten in Zeitungen und Radio getragene "Zeitalter der Erörterung" wurde durch das bildbestimmte "Zeitalter des Showbusiness" abgelöst. In dieser TV-Epoche werde Erkenntnisstreben durch bloße Zerstreuung ersetzt - und zwar in jedem denkbaren Lebensbereich, schrieb Postman. In einer solchen Welt siege die Emotion über die Ratio, Schnelligkeit und Kurzlebigkeit der Fernsehbilder würden eine Reflexion der vermittelten Inhalte verhindern, weshalb die Präsentation selbst entscheidendes Kriterium der Urteilsbildung wird. Die Politik, so Postman, sei längst eine Sparte des Showbusiness geworden.

Und weil Postman in seinem Buch "Wir amüsieren uns zu Tode" an die vor 70 Jahren erschienene Roman-Dystopie George Orwells "1984" sowie an Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" erinnert hatte, wurden auch diese beiden Autoren wieder diskutiert.

Während Orwell in "1984" vor der Unterdrückung durch den Großen Bruder gewarnt hatte, unterwerfen sich die Protagonisten in Huxleys schöner neuer Welt freiwillig jenen Technologien, die ihre Denkfähigkeit zunichtemachen. Während Orwell in seinem "1984" noch vor den Zensoren warnt, fürchtet Huxley jene, die das Publikum so sehr mit Informationen bombardieren, dass die Menschen sich verstört zurückziehen.

Massenverwirrungswaffen?

Die Frage ist nicht unberechtigt: Ist Social Media zu einer Massenverwirrungswaffe verkommen?

Angesichts des nächsten Technologiesprungs - Artificial Intelligence - nimmt es nicht wunder, dass auch die Debatte nun auf der nächsten Eskalationsebene weiterläuft.

Es geht nicht mehr nur um Social Media, Big Data, die Macht der Algorithmen oder Artificial Intelligence - es geht in der Debatte nun um die Frage, wie die Menschheit leben will.

Gefordert wird eine neue Ethik, die den Menschen in den Mittelpunkt der Technik stellt.

Interessant ist, dass die Kritiker keineswegs die neuen Ludditen sein wollen. Ihre Vorbilder sind nicht die maschinenstürmenden Textilarbeiter, die vor 200 Jahren gegen die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen protestiert haben, weil ihnen die mechanischen Webstühle die Arbeit weggenommen haben. Sondern die meisten dieser Kritiker sind durchaus Techno-Optimisten, die aber glauben, dass es neue Regeln im Umgang mit Hi-Tech braucht.

So sieht etwa Rushkoff durchaus die Chance, dass die Menschen das Internet wieder zu dem machen, was es ursprünglich war: Zu einem Medium, das Menschen vernetzt und emanzipiert.

Die meisten der technokritischen Autoren sind sich einig: Eine Ingenieurs-Kultur, die Menschen als das Problem und Technik als die Lösung betrachtet, muss sich ändern. Die schöne neue Datenwelt der künstlichen Intelligenz, so fordern sie, müsse in ein ethisches Korsett gezwängt werden. Und dieses Korsett solle sich nicht an den Markterfordernissen der großen Hi-Tech-Konzerne orientieren, sondern ethischen Prinzipien genügen, die von der Gesellschaft und der Politik erst ausgehandelt werden müssen.