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Klimaneutralität: "Jeder Puzzlestein zählt"

Von Eva Stanzl

Wissen

Die Schwerindustrie verantwortet ein Viertel der Treibhausgasemissionen. Um Eisen und Stahl, Zement und Chemie auf einen Netto-Null-Emissionspfad zu bringen, müssen sie auf erneuerbare Energien umsteigen. In Schweden wird das bereits gemacht.


Auf das Konto der energieintensiven Industrien geht etwa ein Viertel der weltweiten Treibhausgasemissionen. Um Sektoren wie Eisen und Stahl, Zement und Chemie gemäß dem europäischen Green Deal auf einen ehrgeizigen Netto-Null-Emissionspfad zu bringen, müssen industrielle Technologien und Prozesse von fossilen auf erneuerbare Energieträger und Rohstoffe umgestellt werden.

Sagt sich leicht - ist aber ein riesiges Unterfangen. Ein Großteil der Hochöfen steht am Ende der Lebensdauer. Wenn aber etwa der Stahl aber mit grünem Wasserstoff in Direktreduktionsanlagen hergestellt werden soll, bedeutet das neben Milliardeninvestitionen vonseiten der Hersteller auch den Umbau ganzer Infrastrukturen.

Wie das respekteinflößende Unterfangen gelingen kann, thematisiert der Klima- und Energiefonds am Freitag in einem Arbeitskreis bei den Technologiegesprächen in Alpbach. Die Mühen könnten den Planeten retten: Eine emissionsneutrale Schwerindustrie bis 2050 würde im Lebenszyklus dieses Sektors gigantische 60 Gigatonnen an CO2-Äquivalenten einsparen. Zur besseren Vorstellung: Eine Gigatonne Kohlendioxid entsteht, wenn ein Würfel Steinkohle mit einer Kantenlänge von 720 Metern verbrannt wird. Der Burj Khalifa, seit 2008 das höchste Gebäude der Welt in Dubai, ist gerade einmal 108 Meter höher.

Schweden, in Wissenschaft und Forschung führend und aufgrund seines besonders reinen Eisenerz-Vorrats nahe der nördlichsten Stadt Kiruna ein Stahl-Exporteur, hatte bereits 2015 bekannt gegeben, in allen Verbrauchssektoren, also Strom, Wärme, Verkehr, Dienstleistung und Industrie, bis 2045 vollständig aus der Nutzung fossiler Energieträger aussteigen zu wollen. Zugleich sollen erneuerbare Energien, Energieeffizienzmaßnahmen, Speicher und nachhaltige Verkehrslösungen stärker gefördert werden. Robert Watt, Stratege des Stockholmer Umweltinstituts, erklärt, wie eine entsprechende Roadmap umgesetzt wird.

"Wiener Zeitung": Während Österreich über ein Klimaschutz-Gesetz streitet, hat Schweden längst eine Roadmap erstellt, um die Schwerindustrie klimafreundlich zu machen. Wie wird das angegangen?

Robert Watt: Die schwedische Roadmap sieht die Implementierung umweltfreundlicher Technologien vor, um eine CO2-neutrale Schwerindustrie zu entwickeln. Die Initiative wurde im Rahmen des größeren Ziels, sich bis 2045 von fossilen Energien zu befreien, von allen Parteien mitgetragen. Wir wollen Null-Emissionen - und glücklicherweise ist dieses politische Ziel generell breit akzeptiert.

Wie übersetzen Sie Ihre Ziele in die Realität?

Die Regierung hat eine eigene Organisation gegründet, genannt Fossil frit Sverige oder "Fossil Free Sweden", die wiederum eigene Roadmaps für 22 Sektoren entwickelt hat. Die sind eigenverantwortlich für die Durchführung. Es wurde aber auch klargemacht, dass diese Roadmaps sich nicht ausschließlich um Pflichten und Investitionen vonseiten der Unternehmen auf dem Weg zur Klimaneutralität drehen, sondern auch, dass die Betriebe selbst Ansprüche an die Politik stellen können, damit sie ein Umfeld vorfinden, in dem sie diese massiven Veränderungen gewinnbringend verwirklichen können.

Schweden erzeugt und exportiert Stahl und führt Innovationsrankings an. Sieht sich das Land auch als Vorreiter für grünen Stahl?

Die Eisenvorkommen im Norden ermöglichen dem teilverstaatlichten Stahlproduzenten SSAB eine Produktion, ohne die weder Bau- noch Autoindustrie heute existieren könnten. Jedoch stellt SSAB den größten Emittenten in Schweden dar. Die Stahlproduktion zu verändern ist also eine massive Aufgabe, die riesige Investitionen und einen kompletten Umbau der Infrastruktur erfordert. Um sie in die Praxis zu führen, hat die Regierung in Stockholm klargestellt, dass die Stahlindustrie ihren Teil in der Wertschöpfungskette beitragen muss. Aber sie hat auch klargemacht, dass alle im gleichen Boot sitzen: Nicht nur die Stahlerzeugung, sondern auch die Bergbaugesellschaft und die Netzbetreiber müssen mitziehen. Jeder Puzzlestein zählt.

Wie weit ist man in der Praxis?

Nun, es mussten alle Stakeholder, Firmen und Industrien zusammengebracht werden, um ein Ökosystem der Innovationen zu konzipieren und zu schaffen und eine neuartige Wertschöpfungskette zu bilden. Denn man kann gut und gern den Bau von Pilotanlagen fördern, um herauszufinden, wie das Prinzip funktioniert, aber dann muss man das Produkt auch verkaufen können.

Dank eines niedrigen Strompreises im Norden und immer teurer werdender schädlicher Emissionen rechnet sich die Umstellung von fossilen auf andere Energieträger: Bei uns sind die Kosten für energieneutralen Stahl in etwa genau so hoch wie die für normalen Stahl. Wirtschaftlich hat es also Sinn gemacht. Natürlich hat man ganz am Anfang insbesondere mit der Autoindustrie verhandelt, damit diese den neuen Stahl kauft, sodass die volle kommerzielle Produktion in den frühen 2030ern aufgenommen werden kann. Heute sind schwedische Stahlerzeuger wohl die energieeffizientesten der Welt.

Man hat also in Schweden alle, inklusive internationaler Konzerne wie VW, die dort produzieren, mit Verträgen ins Boot geholt. Aber was ist, wenn andere Länder nicht mitmachen? China hat die USA als größten Treibhausgas-Emittenten längst überholt und Indien will die Energiewende überhaupt erst bis 2070 vollbringen. Wie wollen Sie verhindern, dass diese Länder schmutzigen Stahl etwa an Südamerika verkaufen? Wie wettbewerbsfähig bleibt Europa?

Das ist eine der größten Herausforderungen, es ist aber nicht die einzige. Zuallererst müssen wir die Energieproduktion transformieren. Schweden etwa hat wenig Strom auf fossiler Basis, dafür Atomkraft und erneuerbare Energien. Die Frage bleibt, wie schnell wir neue Technologien etablieren und die Produktion skalieren können. Südafrika verlässt sich dagegen auf Kohle, muss also erst einmal dekarbonisieren. Ähnlich ist es in Indien, dort aber gibt es wenigstens große Investitionen in Sonnenstrom, welcher auch für Südafrika enorme Vorteile hätte. Das sonnige Australien ist hingegen eine Supermacht des Solarstroms, mit dem es seine Industrie-Transformation vorantreibt.

Stahl wird global gehandelt, und der globale Handel lässt sich nicht überall mit Zöllen beschränken.

Schweden hat da zum Beispiel die Chance, als Vorreiter-Land Handelsabkommen kleinerer Volumina schon früh zu schließen. Auch für Europa wäre das eine Chance. Freilich haben Indien oder China eine Massenproduktion. Aber wenn wir einen Kipppunkt im Markt für grünen Stahl, etwa im maßgeblichen Autosektor oder in der Bauindustrie, erreichen können, entsteht der Bedarf. Anstatt hier oder dort kleinerer Verträge gäbe es einen Markt.

Dazu müssten viele mitmachen. Wer soll die Bewegung anstoßen?

Baufirmen, Industrieproduzenten, Auto-, Elektronik- und Technologiekonzerne müssen sich als internationale Koalition zusammentun und zeigen, dass sie willens sind, einen gewissen Anteil an emissionsfrei hergestellten Produkten einzukaufen, und den Prozentsatz nach und nach anheben. So könnten auch Länder, die nicht wie Schweden mehrere Industriesektoren haben, mitmachen. Natürlich könnte es eine Zeit lang günstiger sein, schmutzige Güter zu kaufen. Genau deswegen müssen die neuen Technologien billiger werden und die alten mit ihren schädlichen Emissionen teurer und teurer. Man könnte etwa vorhandene Industrie-Subventionen aktivieren, um in den Umbau der Infrastruktur zu stimulieren. Eine dahingehende Strategie könnte ausreichend sein, um die Ziele zu erreichen.