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Friedliche Atome im Schrebergarten

Von Eva Stanzl

Wissen

Projekte im Wert von 19,6 Millionen Euro werden aus Drittmitteln finanziert.


Wien. Dass die Expertise des Atominstituts der Technischen (TU) Universität Wien nach dem Reaktorunfall von Fukushima in aller Munde war, ist zum Teil dem Gepäck seines Chefs geschuldet. Dieser hielt nämlich zum Zeitpunkt des Tohoku-Erdbebens in Japan am 11. März 2011 einen Vortrag in Tokyo.

"Damals gab es mehrere kleinere Beben vor Ort. Während der Rede hörte ich, wie das Gebäude knirschte, setzte aber fort, bis mir ein Kollege flüsterte, dass das Haus Auf- und Ab-Bewegungen mache, die nur bei schweren Beben spürbar sind", erzählt Jörg Schmiedmayer. Der Vorstand des Atominstituts bekam einen Platz im Flieger nach Wien, sein Koffer musste aber nachgeschickt werden. Was einer präzisen Einschätzung der Katstrophe dienlich war. "Wir konnten meine Sachen auf Uran-Isotope untersuchen", erklärt er. Bald meldeten sich Fachkollegen, Politiker und Journalisten aus aller Welt.

Erste Kettenreaktion

Dem Wiener Atominstitut hat die Katastrophe vielleicht das Leben gerettet. Es wurde 1962 an seinem heutigen Standort im Prater, inmitten der Schrebergärten der Wiener, mit der Inbetriebnahme des "Triga Mark II"-Forschungsreaktors eröffnet. Der Reaktor erzeugt Neutronen für wissenschaftliche Experimente in Atom-, Kern- und Reaktorphysik, Strahlenphysik und Strahlenschutz, Umweltanalytik und Radiochemie, nuklearer Messtechnik, Festkörperphysik, Quantenphysik, Quantenoptik und Tieftemperaturphysik. Im März 2011 benötigte er allerdings neue Brennstäbe. Es musste gehandelt werden, doch niemand wollte sich so recht dafür interessieren. Die Euratom-Versorgungsagentur ließ mit ihrer Zustimmung warten, während die Amerikaner, die ursprünglich die Brennstäbe geliefert hatten, die Frist für deren Entsorgung nicht verlängern wollten. Nach dem Fukushima-
Desaster gingen die Dinge auf einmal flott. "Wäre das nicht der Fall gewesen, hätten wir zusperren müssen", so Schmiedmayer. Durch den Tausch des Reaktorkerns vergangenen November sei die Forschungsarbeit für 20 Jahren gesichert, erklärte er am Dienstagabend im Rahmen einer Führung für den Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten.

Der Tausch machte eine Schließung für drei Monate notwendig. Das Atominstitut feiert daher erst heuer sein Jubiläum, genannt "50plus", mit einem Symposion heute, Donnerstag. Im "Praterreaktor" wurde die erste Kettenreaktion am 7. März 1962 ausgelöst. Den Startschuss für die Entwicklung dieses Typs durch die US-Physiker Edward Teller und Freeman Dyson hatte US-Präsident Dwight D. Eisenhower in seiner "Atoms for Peace"-Rede 1953 vor der UN-Vollversammlung zur friedlichen Nutzung der Kernenergie gegeben. Seither läuft der "Praterreaktor" 220 Tage im Jahr auf der thermischen Leistung von 250 Megawatt oder eines Mittelklassewagens. (Das AKW Temelin in Tschechien liefert 3000 Megawatt.) 37 Stück "Triga Mark II" sind weltweit im Betrieb.

Der Wiener Reaktor beherberge einen automatischen Abschaltemechanismus im Krisenfall, versichert Reaktor-Manager Mario Villa, der ihn für die Besucher hochfährt. Im Inneren des mit de-ionisiertem Wasser gefüllten Reaktorbeckens, das einen Durchmesser von zwei Meter und eine Tiefe von 6,5 Meter hat, leuchtet es blau. Zu sehen sind die neuen Brennstäbe und der Effekt von geladenen Neutronen, die schneller sind als Licht.

Gedankenexperiment

Hier wurde das erste Gedankenexperiment nachgewiesen. Im Gedankenexperiment wird eine Situation gedanklich konstruiert, die real so nicht oder nur schwer herzustellen ist, um eine Theorie zu untermauern oder zu widerlegen. Es sei ebenso schwierig, mit einem einzelnen Atom ein Experiment zu machen, wie einen Ychthyosaurier wieder ins Leben zu rufen, hatte der 1887 geborene Physiker Erwin Schroedinger postuliert. Helmut Rauch gelang etwas derart Schwieriges im Jahr 1974 mit dem Nachweis der Neutroneninterferometrie. Er konnte den von der Quantentheorie postulierten Doppelcharakter von Neutronenstrahlen als Teilchen und Wellen zeigen, womit "ein ganzes Wissenschaftsgebiet geschaffen wurde", so Schmiedmayer.

Schmiedmayer erhielt jüngst einen "Advanced Grant" des Europäischen Forschungsrats (ERC) für den Bau von komplexen Quanten-Schaltkreisen, die zu einer neuen Quantentechnologie führen könnten. Er will überprüfen, ob die Eigenschaften der kleinsten Teilchen auch in komplexeren Quanten-Systemen zutreffen.

Derzeit sind 36 Forscher direkt am Atominstitut beschäftigt und 80 weitere Forscher im Rahmen von Projekten angestellt. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) lässt hier UN-Inspektoren ausbilden. Weiters können Spurenelemente bestimmt, antike Gegenstände datiert und Strahlenschäden an Supraleitern gemessen werden. "Der Zerfall des Neutrons gibt Aufschluss über fundamentale Fragen", so Schmiedmayer. Projekte im Wert von 19,6 Millionen Euro würden hier abgewickelt, die aus Fördermitteln des Wissenschaftsfonds und der EU finanziert würden. Von der TU und dem Wissenschaftsministerium würden hingegen nur 300.000 Euro an das Institut und 120.000 Euro in die Instandhaltung des Reaktors fließen.