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Die Mathematik des Zufalls

Von Eva Stanzl

Wissen
Warum hat die Natur Pflanzen, Insekten, größere Tiere und Menschen hervorgebracht? Komplexitätsforscher errechnen unter anderem auch, welche Rolle der Zufall in der Evolution spielt .
© Herbert Zettl/Corbis

Österreichische Wissenschafter wollen ein neues Zentrum für Komplexitätsforschung in Wien gründen.


Warum hat sich die Natur die Mühe gemacht, Menschen hervorzubringen? Es gibt kaum ein komplexeres Rätsel. "In einer Welt, in der Tiere und Pflanzen sich das Überleben ausfechten, profitiert unser Organismus von seiner Komplexität", analysiert der US-Wissenschaftsautor Nathan Collins im Magazin des Santa Fe Institute. Einzelliges Leben auf Erden begann vor 3,5 Milliarden Jahren. Es dauerte weitere 1,5 Milliarden Jahre, bis sich mehrzelliges Leben etablierte und noch länger, bis es so wurde, wie wir es kennen. "Da nach wie vor die Hälfte der Biomasse aus Einzellern besteht, darunter solche, die uns mit tödlichen Krankheiten infizieren, stellt sich die Frage, warum es uns gibt."

Problemen wie diesem gehen Forscher des Santa Fe Institute (SFI) nach. Seit 1984 wird an dem Forschungszentrum in der Hauptstadt des US-Bundesstaats New Mexico interdisziplinäre Grundlagenforschung betrieben, um Theorien für komplexe Systeme in Physik, Biologie, Technik und Sozialwissenschaften zu entwickeln. Was also hat sich die Natur beim Menschen gedacht? Einer These zufolge haben sich Bakterien zu Kolonien verbunden, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen.

"Wenn man das weiterdreht, stellt sich die Frage, ob diese Eigenschaft wettbewerbsfähiger macht und welche komplexen Strukturen - Tiere mit Herzen, Lungen und Blutkreisläufen und in weiterer Folge Sozial-, Gesundheits- und Wirtschaftssysteme - sich daraus ergeben", erklärt David Krakauer, Ko-Direktor des Zentrums für Komplexitätsforschung und Kollektive Computerberechnung des Wisconsin Institute und Leiter des SFI-Projekts "Die Evolution von Komplexität und Intelligenz auf der Erde".

"Markov-Organismen"

Für das Projekt hat Post-Doc Christopher Ellison "Markov-Organismen" programmiert - auf dem Computer simulierte Kreaturen, die Erkenntnisse aus der Biologie mit Informationsverarbeitungsprozessen der Computerwissenschaften vereinen. Die digitalen "Lebewesen" veranschaulichen Informationsflüsse in ökologischen Systemen. Sie legen nahe, dass das Leben sich an die Komplexität seiner Umwelt anpasst. Zwar würden die Markov-Organismen übers Ziel hinausschießen und die Evolution des Komplexen ins Unendliche steigern. "Wie für Touristen in einer fremden Stadt ist für sie jede Kreuzung ein möglicher Irrweg", so Ellison. Die Methode hätte aber einen entscheidenden Vorteil: "Die Evolution von Komplexität wird unabhängig vom Organismus betrachtet. Allen digitalen Modellen liegen dieselben Informationsprozesse zugrunde - die Ergebnisse gelten somit für Bakterien, Menschen oder Politik."

Stephan Thurner erforscht andere Themen. Der Professor der Abteilung für die Wissenschaften von Komplexen Systemen an der Medizinuni Wien hat mit seinem Team über einen Zeitraum von zwei Jahren Bewegungen von Menschen im Zusammenhang mit Arztbesuchen analysiert. Die Forscher haben festgehalten, welche Erkrankungen diagnostiziert, Medikamente verschrieben und Apotheken aufgesucht wurden sowie wann der nächste Arztbesuch unternommen wurde. Die Analyse gibt nicht nur Aufschluss über die Wahrscheinlichkeit, mit der jemand, bei dem Krankheit A diagnostiziert wurde, auch Krankheit B bekommt, sondern auch, wie Betroffene gezielter behandelt werden können und wo das Gesundheitssystem Patienten im Kreis schickt. Besonders Letzteres könnte dem Gesundheitssystem Geld sparen. "Mathematische Modelle ergeben erstaunliche Korrelationen, die zur Lösung sonst unüberschaubarer Probleme beitragen können", sagt Thurner.

"Wicked problems" nennt die australische Regierung diese Herausforderungen in einem Positionspapier. "Wicked" sei hier nicht im Sinne von "böse" zu verstehen, sondern wie es Mathematiker oder Kreuzworträtsel-Besessene lesen würden: als Thema, das sich hartnäckig einer Lösung entzieht. "Tame problems" seien im Gegensatz dazu "zahme" Probleme, die zwar technisch anspruchsvoll sein könnten, jedoch leichter eingrenzbar seien und daher zielstrebig gelöst werden könnten.

"Wicked problems" entziehen sich analytischen, linearen Zugängen. Es ist schwer, sie exakt zu definieren, weil sich die Art des Problems anders darstellt, je nachdem, wen man fragt. Jede Version enthält ein Stück Wahrheit. Es gibt unterschiedliche Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten, mehrere Ursachen und einander im größeren Kontext widersprechende Ziele. Beispiel: Die Drogenbekämpfung muss Schäden für Abhängige minimieren und saubere Nadeln zur Verfügung stellen. Gleichzeitig muss sie den Konsum unterbinden. Oft haben Maßnahmen auch unvorhergesehene Konsequenzen: So sind Klimaschützer mit dem Problem konfrontiert, dass bestimmte Maßnahmen zur Senkung der Schadstoffemissionen zu einer stärkeren Erderwärmung führen könnten, weil sie die Atmosphäre chemisch verändern.

Henne-Ei-Problem neu

"Die Naturwissenschaft falsifiziert oder beweist Vorhersagen. Die Komplexitätsforschung behält dieses 300 Jahre alte Kochrezept bei, schaut sich aber Probleme an, die zuvor mangels Technologie, Daten und Speicherkapazitäten nicht sichtbar waren", erklärt Stefan Thurner. Besonderes Augenmerk gilt der Dynamik: "Nehmen wir an, Sie haben ein System verstanden. Dann aber drehen Sie an einem Schräubchen und das System tut etwas anderes, denn es wird durch Netzwerke zusammengehalten, Sie aber haben ein paar Knoten in den Netzwerken verändert", sagt Thurner. Algorithmen würden diese Veränderungen erfassen und Konsequenzen berechnen. "In der Physik sagte man immer, ein Atom wirkt auf seine Nachbaratome. Laut Newtons Gravitationstheorie wirkt aber jedes Teilchen mit jedem zusammen - alle spüren einander. Und nun stehen nur ausgewählte Elemente in Wechselwirkung."

Wer unter Eingeborenen im Amazonas lebt, lernt mehr über den Urwald als ein Banker unter Bankern. Wo sich jemand aufhält und mit wem er verbunden ist, beeinflusst seine Zustände und wie er sich ändert im Laufe der Zeit. Gleichzeitig beeinflusst die Zustandsänderung das Netzwerk. "Es ist ein Henne-Ei-Problem, das wir früher nicht behandeln konnten. Jetzt aber sehen wir die Netzwerke und die Zustände der Knoten, können komplexen Systemen zuschauen. Das öffnet eine Riesen-Türe: Plötzlich können wir naturwissenschaftlich an Systeme herangehen, die blinde Flecken waren", so Thurner.

Damit immer mehr dieser blinden Flecken auf der Landkarte des Wissens an Farbe und Form gewinnen, wollen österreichische Wissenschafter ein Zentrum für Komplexitätsforschung in Wien gründen. Vorangetrieben wird die Initiative durch das Austrian Institute of Technology (AIT) in Wien. Medizinuni Wien und die Technischen Universitäten Graz und Wien haben ihre Zusammenarbeit zugesagt. Interesse zeigt auch das Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg, das in der geopolitischen Lage Österreichs Vorteile für die Erforschung der Ost-West-Beziehungen sieht. "Wir brauchen fünf Partner, die sich für fünf Jahre mit 200.000 Euro pro Jahr verpflichten, damit wir eine Basisfinanzierung von einer Million jährlich haben", sagt Wolfgang Knoll, wissenschaftlicher Leiter des AIT, das Innovations- und Energiesysteme erforscht. Unis und AIT wollen ihre Anteile in die Leistungsvereinbarungen 2016-2018 einbringen, später wolle man sich mit einer "soliden Drittmittelfinanzierung" etablieren. "Schon allein, weil in Supply Chains große Risiken stecken, erwarten wir Interesse von der Industrie", betont Knoll. Idealerweise will man 2016 starten.

Fabriksgroße Datenspeicher

Politiker verändern mit Steuerreformen die Finanzflüsse. Neue Gesetze verändern die Gespräche von Rechtsanwälten. Familiennetzwerke verändern sich durch Kürzungen von Beihilfen. Big Data werden seit 20 Jahren in Speichern gesammelt, die mittlerweile so groß sind wie Fabriken. Wissenschafter hoffen nun, die Inhalte der Datenfabriken zu verstehen und vorhersagen zu können, wie sich Netzwerke ausbilden. Lassen sie dabei überhaupt noch Platz für den Zufall?

Thurner meint, ja. "Wir machen keine Aussagen darüber, ob sich zwei Personen begegnen und welche Entscheidungen sie treffen werden. Sondern wir leiten aus einem zufälligen Aufeinandertreffen Gesetzmäßigkeiten ab und geben Wahrscheinlichkeiten an für systemische Eigenschaften - ob ein Finanzsystem stabiler wird oder ein Ökosystem vielfältiger wird, wenn man etwas macht." Ob durch die Auswertung der Daten die Welt und ihre Bewohner noch gläserner werden? "Natürlich ist das ein Problem", räumt er ein.

Ein weiteres Problem könnte der Begriff selbst sein. "Komplexitätsforschung ist unscharf definiert, was die Dinge schwieriger machen kann, als sie sind", sagt Wilfried Winiwarter, Senior Research Scholar im Bereich Klimaforschung am IIASA: "Ziel muss sein, zu verstehen, welche Aussagen wir treffen und was wir daraus herauslesen können, sodass uns die animierten Darstellungen von Systemen auch weiterbringen." Bei aller Faszination für Vielschichtigkeit dürfe man das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Denn "mathematische Verfahren können völlig unabhängig zu einem Ergebnis kommen, das wir dann interpretieren. Aber das bedeutet nicht , dass die Interpretation richtig ist", warnt Winiwarter. So, wie die Zahl der Störche im Burgenland nichts über die Zahl der Kindergeburten aussage, würden Muster der Knoten im Netz nicht immer auf die Lösung realer Probleme hindeuten.