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Ein Tanz wie ein Beben

Von Eva Stanzl

Wissen

Über Implantate spürt Moon Ribas alle Erdbeben der Welt. Konzerne wollen nun auch Gehirne mit dem Internet verbinden.


Alpbach/Wien. Moon Ribas‘ Körper ist mit dem Internet verbunden. Die Vernetzung verleiht ihr einen sechsten Sinn. Ribas nimmt dadurch ein bisschen mehr Wirklichkeit wahr als andere Menschen. Die 33-jährige Avantgarde-Künstlerin aus Katalonien ist in der Lage, jedes Erdbeben auf der Welt zu spüren. Wann immer seismische Ereignisse den Boden rütteln, jagen sie "kleine, weiche Vibrationen" durch ihren Körper. Bei 9500 Erdbeben im Jahr (2017) hat sie ein im wahrsten Sinn des Wortes bewegtes Leben. Doch sie schränkt ein: "Kleine Beben merke ich kaum, größere fühlen sich ähnlich wie ein Herzschlag an."

Ähnlich wie auf ihre Atmung und ihre Verdauung, ihr Schwitzen und Frieren hat die Künstlerin keinen Einfluss auf den "zweiten Herzschlag". Er reagiert allerdings nicht auf Kommandos des vegetativen Nervensystems, sondern auf externe Befehle. Und während die fünf Sinne Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten Botschaften von der Außenwelt filtern, kann Ribas es sich nicht aussuchen, von welchem Erdbeben sie etwas wissen will. Der, wie sie ihn nennt, "seismische Sinn" meldet sich unerwartet. Sie kann nicht weglaufen, nicht wegschauen, keine Nase zuhalten und keine Hände wegziehen, weil die Erdbewegungen weit entfernt von ihr grollen und dennoch im Inneren ankommen. Moon Ribas ordnet sich unter, wann immer es so weit ist.

Übertragen werden die Beben von zwei Chips mit Magneten in ihren Knöcheln, "die über Bluetooth mit meinem Smartphone verbunden sind. Wenn das Handy online ist, empfangen die Magneten Signale von Seismographen weltweit. Wann immer neue Daten solcher Ereignisse hereinkommen, vibriert es in mir", sagt Ribas zur "Wiener Zeitung". Dabei schaut sie einen mit dem offenen, ruhigen und warmen Blick eines Menschen an, dem es ernst ist. Die Tänzerin und Choreografin definiert sich als Cyborg.

Romantische, attraktive und gefährliche Cyborgs

Moon Ribas ist mit ihrer Eigendefinition aber nicht so allein und auch nicht so einzigartig, wie man vielleicht annehmen könnte. Cyborgs gelten als Zukunftsvision, und doch sind sie unter uns. Der Begriff ist so breit angelegt, dass sich Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft, Medizin und Alltag in ihm überschneiden.

Nach Ansicht des Schweizer Philosophen Walther Christoph Zimmerli stellt der moderne Mensch generell ein Wesen dar, das in einer symbiotischen Verbindung mit der Technik lebt, die ihn umgibt. Er ist demnach Teil eines "Mensch-Maschine-Komplexes". Entsprechend wäre ein Cyborg bereits eine Person, die sich mit Technik umgibt, etwa in einem Auto sitzt, mit dem Handy telefoniert oder auch nur eine Brille trägt.

Einleitend zum Plenum "Cyborgs - wenn Technologie unter die Haut geht" bei den Technologiegesprächen des Forum Alpbach fasste Manfred Tscheligi, Professor für Mensch-Computer-Interaktion der Uni Salzburg, den Begriff dann doch etwas enger: "Cyborg steht für cybernetic organism. Als kybernetischen Organismus versteht man Menschen, die durch künstlich-technologische Komponenten verbesserte Fähigkeiten gewinnen", sagte er.

In der Kulturgeschichte finden Mensch-Maschine-Wesen ein weites Spielfeld. Manche Cyborgs aus der Science Fiction etwa lehren uns das Fürchten. Sie wollen die Menschen zerstören und durch sich selbst ersetzen. "Ihre Botschaft ist, dass die Menschheit ein Ablaufdatum hat und die Maschinen die Weltherrschaft übernehmen", erläuterte Technologiephilosoph Mark Coeckelbergh von der Universität Wien.

Superhelden zwischen Mensch und Maschine

Science Fiction hat auch attraktive Cyborgs zu bieten. Ihre übermenschlichen Kräfte sind wie ihre Defizite und allzu menschlichen Schwächen das Ergebnis der Spannung, die die Mischung von Metall, Elektronik und Festplatte mit Gehirn, Fleisch und Blut ergibt. Attraktive Cyborgs sind mächtig und hilflos zugleich und "interessant aus der Perspektive der Sexualität, der menschlichen Beziehungen und der Gender Studies", räumte Coeckelbergh ein.

Der romantische Cyborg wiederum reagiert auf die nüchterne Konsequenz der Aufklärung mit rätselhaften Wundern. "Der Romantiker in uns findet das Leben zu langweilig. Mit Hilfe der Technik will er sich verändern und über sich hinauswachsen", sagt der Professor für Philosophie der Medien und Technologie.

Fast bodenständig nehmen sich im Vergleich dazu die Transhumanisten aus. Sie sehen ihre Wurzeln sehr wohl in der Aufklärung, es geht um die Verwirklichung neuer Möglichkeiten. Schwerpunkt der Bewegung ist die Anwendung künftiger Technologien aus den Bereichen Nano- und Biotechnologie, Gentechnik und regenerative Medizin. "Gehirn-Computer-Schnittstellen, das Hochladen des menschlichen Bewusstseins in digitale Speicher und die Entwicklung von Superintelligenz sollen es jedem Menschen ermöglichen, seine Lebensqualität nach Wunsch zu verbessern und seine Möglichkeiten selbst bestimmen zu können", heißt es im Online-Lexikon Wikipedia. Coecklebergh kommentiert: "Transhumanisten finden, dass der Mensch ein Upgrade benötigt und smarter und besser werden muss. Sie wollen die eigene Unvollkommenheit überwinden, den fehlerbehafteten Menschen verbessern und mit Eigenschaften von Superhelden ausstatten." Der wohl bekannteste Transhumanist mit heldenhaften Fähigkeiten zumindest im Sport ist Oscar Pistorius, "The fastest man on no legs". Durch eine Fehlbildung kam der südafrikanische Sprinter und spätere Mörder seiner Verlobten ohne Wadenbeine zur Welt. Mit Unterschenkelprothesen aus kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff erzielte er Weltrekorde.

Beinhartes Geschäft mit Visionen und Träumen

Kommerzielle Rekorde wollen Transhumanisten aus Silicon Valley einfahren. Längst wird an Amerikas Westküste nicht mehr nur Software für Computer, sondern auch Software für das Gehirn geschmiedet. "Brainhacking" heißt die Verschmelzung von Maschine und Mensch, die die Denkleistung erhöhen soll.

Schon heute entschlüsselt die Medizin die Geheimnisse des Gehirns, und um Kranken zu helfen. Über Computer-Hirn-Schnittstellen können Locked-in-Patienten Kraft der Gedanken sprechen, Querschnittgelähmte Roboterarme bewegen und Menschen mit schweren Muskelerkrankungen wie der verstorbene Physiker Stephen Hawking einen Computer bedienen, um zu kommunizieren. Technologiefirmen in Silicon Valley wollen dasselbe bei Gesunden machen. Sie sollen Kraft der Gedanken Geräte steuern oder ihre Gedanken fix-fertig an den Computer schicken. Unternehmen wie Microsoft, IBM, Facebook oder Neuralink investieren hunderte Millionen Dollar in Forschung zu Implantaten, die die Gehirne der Menschen ans Internet anschließen. Dann können Konzerne Gedanken lesen. Und wissen, was wir in Zukunft wollen. Und in unsere Träume kriechen.

Moon Ribas hat bisher nur ihre Füße ins Netz gestellt. "Am Anfang war es gewöhnungsbedürftig. Bei jedem Beben wachte ich nachts auf. Aber jetzt ist mein seismischer Sinn ein Teil meines Alltags. Heute merke ich ihn meistens nur, wenn ich entspannt irgendwo sitze", erzählt die in London lebende Tänzerin, die als Studentin an der Darlington College of Arts Theater School im englischen Devon dazu angehalten worden war, Technologie in Tanzstücken zu nutzen. "Statt die Technik zum Werkzeug zu machen, machte ich sie zu einem Teil meines Körpers. Es gibt viele Dinge, die wir Menschen nicht unmittelbar wahrnehmen können - die Bewegung von Mikroben, das Sprießen von Sporen im Boden. Ich wollte mich mit diesen riesigen Bewegungen verbinden.

Ohne Erdbeben wird nicht getanzt

Das Ergebnis ist Cyborg-Kunst. "Ich habe den Herzschlag und den Erdschlag. Der Erdschlag hat seinen Freiraum in meinem Körper", sagt sie. Die Kunst in der Künstlerin macht Ribas zu ihrer einzigen Betrachterin. Um das Dilemma zu lösen, teilt sie, was sie spürt, in Performances. Das Tanzstück heißt "Auf Erdbeben warten". Es funktioniert ein bisschen wie der Moment, in dem ein Fotograf den Bildausschnitt erblickt und auf den Auslöser drückt. "Ich und die Zuschauer warten auf ein Erdbeben. Wenn sich eines zuträgt, bewege ich mich zu seiner Intensität. Es kann zehn Minuten dauern oder Stunden. Wenn aber die Erde nicht bebt, gibt es keinen Tanz", erklärt sie. Ein anderes Ventil ist Percussion. Dann diktiert die Erdbewegung den Rhythmus der Trommeln.

Bewegt fühlt sich Ribas nicht nur vom Beben, sondern auch vom Zustand der Erde. Aus Sicht der Cyborg-Aktivistin kann Technik den Menschen näher zur Umwelt bringen. Denn der Mensch verändert die Umwelt, wird zur Gefahr. "Vielleicht müssen wir nun uns selbst verändern. Wir könnten lernen, im Dunklen zu sehen oder unsere Körpertemperatur zu regulieren, damit wir weniger Energie verbrauchen", sagt sie.

Aus Sicht eines Cyborgs ist das nicht verkehrt. Für die Avantgarde-Künstlerin definiert sich Natürlichkeit etwas anders als für die meisten Menschen. Moon Ribas lädt auch ihre Batterien regelmäßig auf. Nach eigenen Aussagen legt sie sich alle paar Tage ein Induktionsgerät auf die Haut, das die speziellen Akkus in ihren Implantaten am Laufen hält. "Manchmal bin ich nicht aufgeladen, manchmal hungrig, manchmal müde, so wie es ist im Leben. Es ist ein natürlicher Umstand. Wenn ich keine Erdbeben spüre, weiß ich, dass es Zeit ist, mich aufzuladen", sagt sie. Um es zu vereinfachen, arbeitet sie an einem bio-kybernetischen Akku, der sich aus dem Blutkreislauf oder den Schritten speist.