Rom/Wien.
Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sorgt in Italien für Aufregung. Dem Land wurde bescheinigt, afrikanische Flüchtlinge auf offener See rechtswidrig abgeschoben zu haben. Das Urteil beziehe sich zwar auf Fälle aus der Vergangenheit, aber aufgrund dieses Richterspruches werde man Entscheidungen für die Zukunft treffen, sagte Italiens Premier Mario Monti. Rom will nun seine Flüchtlingspolitik und damit seine Abschiebepraxis überdenken.
Das Urteil könnte aber auch Auswirkungen über Italien hinaus haben. Das weit verbreitete Vorgehen der südlichen EU-Länder, auf dem Mittelmeer aufgelesene Bootsflüchtlinge einfach in die Maghreb-Staaten zurückzuschieben, wird durch den Richterspruch in Frage gestellt.
Der Fall, über den das Gericht nun beschied, ereignete sich im Mai 2009. Drei Gummiboote wurden von Italiens Küstenwache vor Lampedusa in internationalen Gewässern aufgespürt. An Bord waren etwa 200 Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea, denen nach einer dreitägigen Reise schon längst das Trinkwasser fehlte. Die Afrikaner dachten, dass sie von der Küstenwache endlich nach Italien gebracht werden, doch fanden sie sich plötzlich in Libyen wieder – ohne dass ihnen die Möglichkeit gegeben worden wäre, einen Asylantrag für Italien zu stellen.
Der EGMR entschied, dass Italien gegen mehrere Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen hat. So wurde durch die Rückschiebung nach Libyen missachtet, dass Flüchtlinge keiner unmenschlichen Behandlung ausgesetzt werden dürfen. Menschenrechtsorganisationen haben oft dokumentiert, dass Flüchtlinge unter dem damals herrschenden Regime von Muammar Gaddafi gefoltert wurden.
Zudem bestand die Möglichkeit, dass die Flüchtlinge von Libyen aus in ihre Heimatländer zurückverfrachtet werden. In Somalia herrscht Bürgerkrieg und in Eritrea wird gefoltert. Italiens Grenzschützer hätten prüfen müssen, ob sich Schutzbedürftige an Bord befinden, und die Menschen darüber aufklären müssen, dass sie Asyl beantragen können, urteilte der EGMR.
Für tote Flüchtlinge kommt das Urteil zu spät
Italien wird 22 Flüchtlingen, die geklagt hatten, nun jeweils 15.000 Euro Entschädigung zahlen. Für manche Betroffene kommt das Urteil aber zu spät. Laut "Süddeutscher Zeitung" sind zwei Flüchtlinge nach ihrer Rückführung unter ungeklärten Umständen gestorben, 16 sind verschollen.
Für das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR wird jedenfalls mit dem Richterspruch eine grundlegende Forderung erfüllt. "Grundsätzlich hat jeder Staat das Recht, seine Grenzen zu überwachen, das ist Teil seiner Souveränität", sagt UNHCR-Sprecherin Melita Sunjic im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Aber die Bewachung darf nicht so weit gehen, dass Leute, die Schutz benötigen, nicht ins Land kommen können. Wir glauben, dass dieses Urteil ein Zeichen setzt."
Laut dem EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz hat der EGMR für Klarheit in der gesamten EU gesorgt. "Der vorläufige Schutz eines jeden Flüchtlings ist pflichtgemäß zu garantieren", sagte er gegenüber der ARD. Gestützt auf bilaterale Abkommen haben südliche EU-Staaten im Mittelmeer aufgelesene Bootsflüchtlinge immer wieder in arabische Länder wie Tunesien und Libyen zurückgeführt, ohne dass ein Asylanspruch geprüft wurde. Das Urteil bestärkt nun die Flüchtlinge in dem Recht, auch auf dem Meer Asyl zu beantragen. Denn die offene See sei kein Bereich außerhalb der Gesetze, beschieden die Richter.
Sollte die EU durch das Urteil nun mehr Asylwerber aufnehmen müssen, wird wohl wieder die Debatte über die Verteilung der Flüchtlinge aufbrechen. Derzeit gilt, dass das EU-Land, in dem Asylwerber ankommen, diese auch aufnehmen muss. Vor allem die Mittelmeeranrainerstaaten verlangen aber, dass die Flüchtlinge über die ganze EU verteilt werden, was wiederum viele nördliche Länder ablehnen.
Jedenfalls verstärkt die EU immer mehr die Überwachung ihrer Außengrenzen, die durch nationale Behörden oder die Grenzschutzagentur Frontex durchgeführt wird. Trotzdem versuchen jedes Jahr Zehntausende, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, und das oft mit seeuntauglichen Schiffen. Das Mittelmeer wurde zum Massengrab: Allein im Jahr 2011 sind laut einer UNHCR-Statistik rund 1500 Menschen gestorben oder gelten als vermisst, die über diesen Seeweg Europa erreichen wollten.
Wie weit massive Grenzüberwachung die Auswanderungsbewegungen aufhält, ist fraglich. Die Zahl der Bootsflüchtlinge hängt zumeist mit politischen Ereignissen zusammen. So spielte sich die letzte große Auswanderungswelle über das Mittelmeer im vergangenen Jahr ab, als in Libyen Krieg herrschte und der Arabische Frühling in den Maghreb-Staaten in vollem Gange war.
Auswanderer sind großem Leid ausgesetzt
In die EU zu gelangen, das versuchen aber nicht nur Flüchtlinge, die Schutz vor Verfolgung suchen, sondern auch Migranten, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind. Das Mittelmeer ist nur die letzte Station ihrer Reise, zuvor haben viele Auswanderer oft schon mehrere afrikanische Länder durchquert. Sie sind dabei großem Leid ausgesetzt. Zeugnis davon legt der Kameruner Fabien Didier Yene in seinem Buch "Bis an die Grenzen" ab. Er versuchte vergeblich, nach Europa zu gelangen. Yene beschreibt, wie er bei Fußmärschen durch die Wüste fast vor Erschöpfung gestorben wäre, wie er in Marokko nur überlebte, indem er Müllhalden nach Essen absuchte.
Laut Yene, der heute in Marokko als Menschenrechtsaktivist tätig ist, wissen etwa in seinem Heimatland Kamerun die Leute längst Bescheid, "was auf der Route nach Europa vor sich geht". Trotzdem können weder dieses Wissen noch eine verschärfte Grenzüberwachung die Auswanderung verhindern, solange eine "fortgesetzte Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschen im Süden" herrscht, betont Yene. "Der Leidensdruck ist zu groß."