Es scheint fast, als sei die "Goldene Birne" der Nabel der Wiener Vorstadt Landstraße. "Alle", stellt Herbert Beer, Wolfpassing, fest, "haben irgendwie mit dem Gasthaus "Zur goldenen Birne" zu tun . . . Hier schließt sich der Kreis von Balzac über Lanner, Stifter . . . bis zu Robert Musil". Doch der Reihe nach.

Der schon 1701 bestehende Gasthof war bereits Thema in vergangenen Zeitreisen-Ausgaben. Mit den Gemeine-Recherchen zur Zusatzorchidee der Nro. 334 folgt das vorerst letzte Kapitel zu dieser Institution. Glanzvoller Höhepunkt des Etablissements war das Biedermeier. Mathilde Lewandowski, Payerbach: "Johann Strauss und Josef Lanner konzertierten in dem im Hof des Nachbargebäudes errichteten Tanzsaal." Da man dort u.a. das Namensfest der Wiener Annen feierte, wurde er, so Mag. Robert Lamberger, Wien 4, als "Wiener Annentempel" bekannt.

"Die "Goldene Birne" war . . . Treffpunkt und Herberge berühmter Persönlichkeiten", wie Elisabeth Somogyi, Wien 11, anmerkt. Neben Balzac und Beethoven (vgl. Nro. 336) waren auch andere Prominente zu Gast: "1839 besuchte Hoffmann von Fallersleben mit Nikolaus Lenau das Lokal und lobte in seiner Schilderung die guten Speisen und Lanners Musik . . . Adalbert Stifter wohnte im Hinterhaus des Gasthofes."

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlor die Birne an Popularität. Der Niedergang endete mit dem Abriss des Hauses in den 1930ern. Wie Rudolf Freiler, Kirchschlag, notiert, setzte Robert Musil (1880-1942) der Gaststätte "ein literarisches Denkmal". Den Titel der wenig bekannten Erzählung, für deren Schauplatz die Birne Modell stand, nennt Franz Kaiser, Wien 11: "Der Vorstadtgasthof".

Als Musil den Text in den frühen 1920ern schrieb, hatte die Birne schon jeglichen Glanz verloren. Das Haus, in dem der Autor gelegentlich Verwandte unterbrachte, eignete sich als zwielichtiger Ort für eine albtraumhafte Geschichte. Schon deren ursprünglich geplanter, dann verworfener Titel verheißt nichts Gutes; Harry Lang, Wien 12, fand ihn heraus: "Der Mörder".

"Der Kern der Episode lässt sich schnell erzählen", so Brigitte Schlesinger, Wien 12: "Ein Mann trifft sich mit einer Dame mittleren Alters in einem ziemlich merkwürdigen Vorstadtgasthof, um mit ihr zur geschlechtlichen Vereinigung zu kommen. Als dies jedoch geschehen soll, ereilt ihn ein hysterischer Anfall, welcher in . . . widerwärtiger Weise darin kulminiert, dass der Frau beim Kuss die Zunge durchgebissen wird."

Begonnen hat die Geschichte noch recht harmlos mit der Schilderung des düsteren Gasthofes. Doch "beim näheren Hinschauen" kommt Dr. Helmut Zemann, Kaisersdorf, "das Grausen". Die beiden letzten Sätze der kurzen Erzählung lauten: "Der Sturm einer großen Tat wirbelte ihn empor. In seinen Kreiseln riß er die weiße, blutende, in einer Zimmerecke um sich schlagende, um einen hohen, heiser kreischenden Ton, um den taumelnden Rumpf eines Lauts sich drehende Masse der unglücklichen Frau hinweg."

Blutiger Roman-Auftakt

Ebenso verzichtete Dr. Alfred Komaz, Wien 19, gern darauf, sich "die ganze Erzählung zu Gemüte zu führen. Auch glaube ich ganz gut zu verstehen, warum der Autor eines der 25 Exemplare der Erstausgabe seiner guten Bekannten, . . . Mary Dobrzensky . . . - nach seiner eigenen handschriftlichen Widmung - nur "mit niedergeschlagenen Augen" überreicht hat."

Eine Tagebuchnotiz Musils, etwa aus der Entstehungszeit des "Vorstadtgasthof", fand Klaus-Peter Josef, Tulln: "Dichten ist Gerichtstag halten über sich selbst; mit einem sicheren Freispruch!"

"Der Vorstadtgasthof" ist heute fast vergessen, ganz im Gegensatz zum Hauptwerk Musils. Ing. Mag. Hermann Schuster, Baden: "Sein Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" ist allseits bekannt". Maria Thiel, Breitenfurt: Dank ihm gilt Musil "neben James Joyce, Thomas Mann, und Marcel Proust als Erneuerer des Romans im 20. Jahrhundert".

Eigentlich hatte Musil geplant, sein Opus magnum mit dem "Vorstadtgasthof" beginnen zu lassen, merkt Dr. Manfred Kremser, Wien 18, an. Man könne diese Geschichte also "als Einstimmung auf den Sexualmörder Moosbrugger im "Mann ohne Eigenschaften" bezeichnen."

Gelehrtenwohnung

Doch das 1924 schließlich eigenständig publizierte Stück Prosa ist nicht die einzige Verbindung des Literaten mit dem 3. Bezirk. Christine Sigmund, Wien 23: Schon 1911 bezog das Ehepaar Robert und Martha Musil Quartier "in der Unteren Weißgerberstraße 61 . . . drei Zimmer, zwei Kabinette, Küche und Bad - 125m²."

Nach dem Ersten Weltkrieg residierte Musil "bis 1938", so Erwin Kladiva, Wien 14, wieder "im 3. Bezirk". Michael Chalupnik, Sieghartskirchen: Er wohnte "zunächst in der Ungargasse 17". An dieser Adresse arbeitete er, wie Karl Meywald, Wien 20, recherchierte, auch am "Vorstadtgasthof". Mag. Luise & Ing. Konrad Gerstendorfer, Deutsch-Wagram: Dann übersiedelte er "in die Rasumofskygasse 20. Dort wohnte er im zweiten Stock, sein Arbeitszimmer lag an der Ecke zur Salmgasse." In dem "malerischen, zum Teil auf den Unterkellerungen des einstigen Nikolaiklosters stehenden . . . Häuserkomplex (gegenüber dem Palais Rasumofsky)" wohnte der Schriftsteller, so Gerhard Toifl, Wien 17, bis 1938.