Nimmt man dies an, so schwindet die große Schwierigkeit, die sich der Erklärung der raschen Entstehung und Herstellung der Riesencanäle des "Mars" entgegenstellte, deren Ausgrabung allerdings nach unseren Begriffen kaum möglich erscheint. Um einen großen Canal neu herzustellen, bedarf es alsdann nur der Aufwerfung von 2 bis 3 Fuß hohen Dämmen an den beiden Längsseiten des Canales und des Wegräumens der Dämme oder Deiche nach dem offenen Meere zu, damit das Wasser eindringen kann. Es kostet in dieser Weise die Herstellung eines Canales von 50 Kilometer Breite nicht mehr Arbeit als die eines solchen von 50 Meter Breite. Die Dämme dieser Canäle können lange vorbereitet sein, ohne daß man sie bei ihrer geringen Höhe mit dem besten Teleskop wahrnehmen kann, und es begreift sich, daß sie plötzlich in die Erscheinung treten, wenn die Meeresdämme geöffnet werden.

Will man der Phantasie noch weiteren Spielraum geben, so kann man annehmen, unter der Voraussetzung, daß die "Mars"-Canäle ähnlichen Zwecken dienen wie unsere Canäle, daß die Fahrzeuge zur Beförderung (die bei der geringen Tiefe große Flöße sein mögen) vorher in dem Bette des Canales fertig gezimmert werden, ehe das Wasser bei Eröffnung des Canales hineingelassen wird. (...)

Reis als Hauptspeise?

Indem ich mir das im Vorhergehenden skizzirte Bild einer leichten Ausführbarkeit der Riesencanäle des "Mars" mache, nehme ich durchaus nicht an, daß sie vornehmlich oder ausschließlich zu Transportzwecken gebraucht werden. Wahrscheinlicher ist es mir, daß sie (...) hauptsächlich zur Bewässerung dienen, und ihre für unsere Begriffe ganz fabelhaften Größenverhältnisse sind wahrscheinlich deßhalb erforderlich, weil ihre Tiefe so gering ist (...).

Noch mehr Wahrscheinlichkeit hat es vielleicht für sich, anzunehmen, daß die Canäle bei der hypothetischen hohen Entwicklung der "Mars"-Bewohner in erster Linie zu Ackerbauzwecken dienen und die Herstellung derselben ihnen durch Uebervölkerung aufgezwungen worden ist. Die Dämme, beziehungsweise Deiche werden vielleicht durch riesige Dampfpflüge aufgeworfen, und was wir als Canäle von größerer oder geringerer Deutlichkeit (je nach der Höhe des Wasserstandes darin) erblicken, sind vielleicht bloß gewaltige Berieselungsfelder in ihren verschiedenen Culturstadien, auf welchen Reis oder eine ähnliche Wasserpflanze gezogen wird.

Wie aber auch die Verhältnisse auf unserem Nachbarplaneten sein mögen, so viel scheint mir nach den vorhergehenden Betrachtungen unzweifelhaft zu sein, daß die außerordentliche Breite und Größe der "Mars"-Canäle uns gar nicht abzuhalten braucht, sie als das Werk vernunftbegabter Wesen anzusehen. (...)

Menschen ebenbürtig

Man kann die Frage aufwerfen, ob der "Mars" heute noch von lebenden Wesen bewohnt ist oder ob die Canalanlagen aus sehr alten Zeiten stammen und mittlerweile die Bevölkerung des "Mars" ausgestorben ist. Da aber künstliche Bauten an Flüssen und Seen dem Einflusse der Elemente verhältnißmäßig rasch zum Opfer fallen, sobald sie nicht mehr dauernd beaufsichtigt und unterhalten werden, so muß man zu der Ueberzeugung kommen, daß die "Mars"-Canäle sich heute nicht mehr so vollständig und scharf (...) darstellen würden, wenn nicht ununterbrochen für ihre Erhaltung gesorgt würde.

Demgemäß müssen wir annehmen, daß auch heute noch unsere Nachbarwelt (...) von lebenden, vernunftbegabten Wesen bewohnt (...) ist. Wie jene Wesen im Einzelnen organisirt sein mögen, wird uns wohl ewig verborgen bleiben, aber aus ihren Werken können wir mit voller Sicherheit den Schluß ziehen, daß ihre Denkgesetze mit den unsrigen übereinstimmen, daß sie die nämliche Geometrie haben wie wir, daß sie sehen, hören und fühlen so wie eine Sprache besitzen, kurz daß sie Wesen sind, die sich dreist mit uns messen können, ja in ihren technischen Arbeiten uns vielleicht übertroffen haben. Sonach wäre (...) am Schlusse des 19. Jahrhunderts der empirische Nachweis erbracht, daß der irdische Mensch weder das einzige, noch unbedingt das höchste vernunftbegabte, denkende Wesen im Weltall ist.

In den Weiten des "Wiener Zeitung"-Archivs verlor sich: Andrea Reisner

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