In der Klopstockgasse 5 im 16. Wiener Bezirk kam es am 5. Juni 1899 zu dramatischen Szenen. Die drei Kinder des Federhaltermachers Carl Gerzinger waren allein daheim, Mutter und Vater arbeiteten außer Haus. Da sie niemanden hatten, der die zwischen zweieinhalb und sieben Jahre alten Geschwister betreuen konnte, mussten sie sie wohl oder übel ohne Aufsicht zurücklassen. Bevor der Älteste in die Schule ging, sperrte er die kleine Caroline in ein Zimmer ein, den 5-jährigen Willi in die Küche.

Kurz nachdem der große Bruder weggegangen war, sahen Nachbarn Rauch aus den Fugen der Fenster steigen. Sofort sprengte man die Tür auf und fand die beiden Kleinen bewusstlos in den stark verqualmten Räumen. An der Luft erholten sie sich aber zum Glück rasch. Die Flammen konnten noch vor Eintreffen der Feuerwehr gelöscht werden.

Das Mädchen, so stellte sich später heraus, hatte mit Zündhölzern gespielt und ein Bett in Brand gesteckt.

Nicht immer verliefen derartige Vorfälle so glimpflich. Die Chronik-Spalten der Zeitungen waren einst voll von Berichten über Unglücksfälle, bei denen Kinder zu Schaden oder gar zu Tode kamen.

Dies betraf vor allem die ärmeren Teile der Bevölkerung. Wenn beide Eltern sowie größere Geschwister gezwungen waren, einem (meist jämmerlich entlohnten) Broterwerb nachzugehen, damit die Familie nicht verhungert, blieb kein Geld übrig, um jemanden für die Beaufsichtigung der Kleineren zu bezahlen. Oft mussten ältere Kinder dies übernehmen und dafür nicht selten den Schulbesuch vernachlässigen.

Die Betreuung der Jüngsten sah der Staat nicht als seine Aufgabe an. Die wenigen Initiativen, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts aufkamen, gingen auf das karitative Engagement von einigen wenigen Wohlhabenden zurück. Freilich war das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ein am 30. November 1836 in der "Wiener Zeitung" publizierter Bericht über den Zustand der Kinderbewahr-Anstalten in Wien (hier im Original nachzulesen) gibt einen Überblick über die damalige Situation in der Donaumetropole. 

Für das Jahr 1835 werden sechs Bewahranstalten verzeichnet (in Klammer jeweils die heutigen Wiener Bezirke): Am Rennweg (3.), auf dem Schaumburgergrund (4.), zu Margaret(h)en (5.), in Neulerchenfeld (16.), in Reindorf (15.) sowie in Hernals (17.). Insgesamt hatten sie Platz für 856 Kinder zwischen zwei und fünf Jahren, von denen die meisten aus den untersten Volksclassen kamen und kostenlos betreut wurden.

Einen ausführlichen Bericht über Wiens Kinderbewahranstalten druckte die "Wiener Zeitung" am 30. Nov. 1836 ab. 
- © WZ-Faksimile: Moritz Szalapek

Einen ausführlichen Bericht über Wiens Kinderbewahranstalten druckte die "Wiener Zeitung" am 30. Nov. 1836 ab.

- © WZ-Faksimile: Moritz Szalapek

Der Andrang war groß, nicht nur bey dem gemeinen Volke, das um Aufnahme (...) dringend bittet. Um entgeltliche Restplätze rissen sich wohlhabende Aeltern aus der inneren Stadt, die ihre Kleinen lieber in eines der Häuser brachten als sie unverläßlichen Dienstbothen anzuvertrauen.

Als Schirmherrin der Bewahranstalten wird Kaiserinn-Mutter Carolina Augusta, Witwe des 1835 verstorbenen Franz I., genannt. Auch viele andere Namen sind aufgelistet, nicht zuletzt Spenderinnen und Spender, unter denen man manchen Prominenten wie Ferdinand Raimund, dramatischen Künstler, oder Johann Strauß, Musik-Director, findet.

Oft übernahmen ältere Geschwister die Betreuung (rechts zwei Kinder um 1900). Links: Eine Krippe in Neulerchenfeld 1872. 
- © Bilder: Zeitungsillustration (1872), koloriert von Philipp Aufner/WZ; r.: Wien Museum

Oft übernahmen ältere Geschwister die Betreuung (rechts zwei Kinder um 1900). Links: Eine Krippe in Neulerchenfeld 1872.

- © Bilder: Zeitungsillustration (1872), koloriert von Philipp Aufner/WZ; r.: Wien Museum

Nicht erwähnt wird jener Mann, der die Idee der Bewahranstalten erst nach Wien gebracht hatte: Joseph Wertheimer (1800-1887). Er hatte 1830 die erste dieser Einrichtungen in der Donaumetropole ins Leben gerufen. Dem jüdischen Kaufmann war beim Studium von Totenlisten aufgefallen, dass der Nachwuchs der Armen weit öfter verunglückte als jener der Wohlsituierten.

Schließlich beantragte er bei der Obrigkeit die Gründung einer Betreuungsstätte, um Kinder vor körperlicher und geistiger Vernachlässigung zu bewahren. Von 32 Pfarrämtern, die den Vorschlag auf Kaisers Geheiß begutachteten, hielten nur zwei ihn für sinnvoll. In Pfarrer Johann Lindner fand Wertheimer einen beherzten Mitstreiter. Im Sinne der infant schools des Briten Samuel Wilderspin (1791- 1866) schufen sie 1830 die Kinderbewahranstalt am Rennweg. Weitere folgten.

Joseph Wertheimer (1800-1887). 
- © Bild: Archiv/gemeinfrei

Joseph Wertheimer (1800-1887).

- © Bild: Archiv/gemeinfrei

Eine wichtige Beraterin Wertheimers war Therese Brunswick (oder Brunsvik; 1775-1861). Die ungarische Gräfin hatte 1828 in Ofen (nun Teil Budapests) die erste Kinderbewahranstalt der Monarchie initiiert.

Therese Brunswick (1775-1861). 
- © Bild: Archiv/gemeinfrei

Therese Brunswick (1775-1861).

- © Bild: Archiv/gemeinfrei

Anfangs wurde Wertheimer von Carolina Augusta, damals noch Kaiserin, gefördert. Doch bald fürchtete die Landesmutter, dass die "Kinder die Liebe zu ihren Eltern verlieren, indem sie mehr Annehmlichkeiten (...) empfangen" als daheim. Und: "Mit der Erschütterung der kindlichen Liebe geht (...) auch jene an die Regierung verloren." Es wuchs also die Angst, in Bildungsstätten für die Kleinsten könnte der Keim der Revolution schlummern.

Trotzdem sorgte sie für Verbreitung solcher Einrichtungen. Allerdings unter Kontrolle der Kirche: Für Wien entstand 1831 ein vom Fürsterzbischof geleiteter Hauptverein, der achtgab, dass nicht Aufständische, sondern brave Untertanen herangezogen wurden.

Kopfnuss: Wer prägte den Begriff "Kindergarten"? (Geknackte Kopfnuss auf der nächsten Seite)