Unter der großen Überschrift "Neue Bücher" erschien am 14. Jänner 1935 ein Artikel in der "Wiener Zeitung", der wohl manche Leserin, manchen Leser staunen ließ: Eine Rezension über "Erbschaft dieser Zeit", das jüngste Werk des deutschen Denkers Ernst Bloch (1885-1977).
Was war so außergewöhnlich daran? Bereits seit März 1933 stand im autoritär regierten Österreich de facto die gesamte Presse unter Zensur. Für unser Blatt galt Besonderes: Dollfuß hatte es zum Propagandaorgan gemacht. Ausgerechnet darin erschien nun ein Lob auf den prononcierten Marxisten und Antifaschisten Bloch.
Autor war der Komponist und Schriftsteller Ernst Krenek (auch Křenek, 1900-1991), der 1934 bis 1938 für die "WZ" arbeitete. Später erinnerte er sich an die "absurde Situation": Herausgegeben wurde die Zeitung von einer Regierung, "die den Liberalen auf der ganzen Welt als faschistischer Ableger (...) verdächtig war". Gleichzeitig jedoch druckte sie "in ihrem Feuilleton fortschrittliche, nonkonformistische Ansichten".

Ernst Krenek (1900-1991) nahm sich als "WZ"-Mitarbeiter 1934ff kein Blatt vor den Mund.
- © Eric Schaal/Weidle-Archiv (CC BY-SA 3.0); via Wikimedia commonsThematisch hatte Krenek freie Hand. "Sie können schreiben, was Sie wollen", soll Feuilletonchef Edwin Rollett (1889-1964) gesagt haben, "ich fürchte mich vor niemandem". Krenek publizierte vielfältige Beiträge, von Reisebildern bis hin zu Betrachtungen über die Micky Maus. Er rezensierte zahlreiche Bücher, auch von Autoren, die dem Regime ein Dorn im Auge sein mussten, z.B. Bertolt Brecht oder Alfred Döblin.
Oder Ernst Bloch. Dessen Werk "Erbschaft dieser Zeit" (1935) erschien bei Oprecht & Helbling in der Schweiz, wo der jüdische Intellektuelle nach seiner Flucht aus Deutschland gelebt hatte. Es handelt sich um eine Sammlung von Texten zu verschiedensten Phänomenen der 1920er-Jahre - einer Ära, die für Bloch alles andere als "golden" war und den Keim des Faschismus in sich trug.

Ernst Bloch (1885 -1977) wunderte sich, dass sein Buch "Erbschaft dieser Zeit" 1935 ausgerechnet von der "Wiener Zeitung" besprochen wurde.
- © Fred Stein Archive/Archive Photos/Getty ImagesDie Publikation stand unter keinem guten Stern, sie drohte unterzugehen. In Hitler-Deutschland war sie verboten, eine Rezension ausgeschlossen. Aber auch in der Schweiz rannte Bloch gegen Mauern, die "Neue Zürcher Zeitung" winkte ab. In Österreich standen die Chancen denkbar schlecht, kein Blatt konnte eine Besprechung wagen. Ausgenommen die "Wiener Zeitung".
Prominent auf der Literaturseite placiert referierte Krenek über das Buch, das eine Art Belehrung an die Marxisten sei, welche geistigen Bestände unserer Epoche man in einer kommenden sozialistischen Gesellschaftsordnung brauchen könne. Freilich wird klargestellt, dass wir (...) die Vorstellung Blochs von jener Zukunft keineswegs teilen - Krenek war Katholik und Nazi-Gegner, aber kein "Linker". Dennoch betont er Originalität und Überzeugungskraft der Analysen. Der klugen Leserschaft wird die Lektüre explizit empfohlen: Wer (...) das Denken liebt, wird sich durch Blochs Schriften reichlich belohnt finden.

Das traute sich nur die "Wiener Zeitung": Am 14. Jänner 1935 erschien Ernst Kreneks Lob auf den Marxisten Ernst Bloch; hier sind Einleitung und Schluss der Rezension wiedergegeben.
- © WZ-Faksimile: M. SzalapekDer Philosoph selbst staunte über die positive Besprechung: "Das ist Österreich, das sonderbare Land", schrieb er einem Freund.
Im Jänner 1935, als Kreneks Text erschien, weilte Bloch gerade in Wien. Nachdem er und seine Verlobte, die in Lodz geborene Karola Piotrkowska (1905-1994), aus der Schweiz ausgewiesen worden waren, hatten sie sich für Österreich als vorübergehenden Wohnsitz entschieden. Im November 1934 heirateten sie hier und bezogen ein Quartier im sogenannten Hochhaus in der Herrengasse 6-8. Das Einkommen für die Eheleute sicherte Karola Bloch, die Arbeit als Architektin fand.
Rasch schlossen sich die beiden einem illustren Kreis an, zu dem u.a. Literat Elias Canetti, Bildhauer Fritz Wotruba, dessen Schülerin Anna Mahler und Ernst Krenek gehörten. Auch auf Partys bei Alma Mahler und Franz Werfel sah man die Frischvermählten.
Es war für das Paar dabei keineswegs ungefährlich, sich in Wien aufzuhalten, zumal Karola Bloch als Kommunistin aktiv war. Schon seit Mai 1933, also noch vor dem Verbot der Sozialdemokratie, stand in Österreich jegliche Betätigung für die Kommunistische Partei unter Strafe. Das hielt die politisch Engagierte nicht davon ab, mehrmals riskante Geheimaufträge für ihre Genossen auszuführen.

Im 1932 eröffneten Hochhaus in der Wiener Herrengasse logierte das Ehepaar Bloch 1934/35.
- © Foto (1930er): Wien Museum/CC0; Schmuckfarbe: Philipp AufnerEinmal soll die Polizei eine Hausdurchsuchung bei den Blochs gemacht haben (wie Ernst Krenek Jahrzehnte später in einem Gespräch mit Musikwissenschafter Eberhardt Klemm berichtete). Der Philosoph habe daraufhin sein Werk vorgezeigt und gesagt: "Das ist mein Buch, das ist in der "Wiener Zeitung" besprochen worden." Worauf der Polizist erwiderte: "Ach so, Herr Doktor, dann ists schon recht."
Ernst und Karola Bloch entschlossen sich im Sommer 1935, Wien zu verlassen. Es folgten Aufenthalte in Paris und Prag. Kurz vor Einmarsch der NS-Truppen flohen sie mit ihrem 1937 geborenen Sohn Jan Robert in die USA. Während Karola Bloch die Familie mit diversen Jobs durchbrachte, arbeitete Ernst an seinem Opus magnum: "Das Prinzip Hoffnung" erschien in mehreren Bänden ab 1954. Bloch war mittlerweile Professor in Leipzig. "Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen", heißt es im Vorwort - ein Satz, den man sich auch dieser Tage zu Herzen nehmen kann.
Kopfnuss: Wohin wanderte Ernst Krenek 1938 aus? (Geknackte Kopfnuss auf der nächsten Seite)