Was vor wenigen Tagen noch als Schnee oder Eis dem Erdreiche der Höhen und Ufer anhaftete, zieht nun als schmutzig-gelbe Masse in den Wassern des Spree-Canales hin, die sich langsam, träge schleichend, von Dämmen beengt, von Brücken überwölbt, durch die Hauptstadt wälzen. Fast scheint es, als habe Mutter Erde ihren heurigen Jahreslauf beschleunigt und sich schneller denn sonst den sonnigen, sommerlichen Wärmestrahlen genähert, die nun heiß schmeichelnd und lebenzeugend in ihren Schooß eindringen.
Schwülem Dampfe gleich entsteigt es jetzt in der Mittagssonne den weißlichen Pflastersteinen, zittert es in der lichtdurchglühten Luft. Blätterlose Bäume und Sträuche wärmen ihre Nacktheit daran, und die rauhen, kahlen Aeste beugen sich langsam wohlgefällig unter den Liebkosungen des ersten Frühlingswindes. Ein warmer Hauch erwachender, gewaltiger Sinnenlust zieht, von Erde und Himmel kommend, die Häuser und Straßen entlang, dringt in die Herzen der Menschen ein, daß ihre Nerven zittern und nachklingen wie fein berührte Saiten, und die Gedanken zu Wünschen werden, zu überwältigendem Sehnen. (...)

Einer der belebtesten Verkehrspunkte der Stadt Berlin ist wohl die Potsdamerstraße; da, wo der Spree-Canal sie durchschneidet. Reges Treiben herrscht hier, alle Tagesstunden lang, bis spät noch in die Nacht hinein. Eine einfache Brücke, ein breiter Fahrweg, von zwei gewölbten Fußsteigen begrenzt, führt über das Wasser.
Strindberg im "Ferkel"
Sieht man der Strömung desselben entgegen, so hat man zur rechten Hand den kürzeren Theil der Potsdamerstraße, der Stadt zuführend, mit all ihrem Getriebe und bewegtem Sein: eine lange, breite Straße, mit Laden an Laden, wie ihn der Fleiß des um das tägliche Brot sorgenden Arbeiters füllt, um all den Bedürfnissen zu genügen, die der Reiche in seinen Mußestunden empfindet und erfindet. Denn es giebt der Sorglosen, Wohlhabenden Viele, und hier, links des Wassers, führt es nach dem Westen, dem Wohnsitze des vermögenden Berlins. Aus einer sandigen Ebene ist er entstanden, im Laufe weniger Jahre, der ganze Stadttheil der Reichen, Ruhigen und Vergnügten. (...) Da hausen Offiziere und - Banquiers, Besitzer der Fabriken des Ostens. Da lebt vor Allem das heitere Volk der Künstler und Schriftsteller, die, aus den streng bürgerlichen Beamtenkreisen zum größten Theile ausgeschlossen, eine Welt für sich bilden, eine sonnige Welt voll Lebensgenuß und Geistesleben. (...)
Zahlreich sind die Namen der hier ansäßigen Dichter und Schriftsteller: Ernst von Wolzogen, Alfred Friedmann, Zobeltetz (Fedor von Zobeltitz, Anm.), Spielhagen (Friedrich, Anm.), Land (Hans, Anm.), Holländer (Felix, Anm.), Hermann Heiberg. (...)
Berlin ist jetzt zur Heimstätte der großen Scandinavier geworden. In einer Sackgasse der "Linden" ist eine kleine Weinstube, mit braunem Holze stimmungsvoll getäfelt, vor deren Thür leere Austernschalen, Rothweinflaschen und die Gestalt eines Wildschweines prangen. "Zum schwarzen Ferkel" heißt die Künstlerkneipe, die allabendlich die Fremden da vereinigt. August Strindberg, (...) Drachmann (Holger, Anm.), Gunar Heiberg, Paul (Adolf, Anm.) - die Maler Munck (Edvard Munch, Anm.) und Grog (Christian Krohg, Anm.) treffen daselbst zusammen. Die kleine Colonie großer Männer bildet den nicht geringen Stolz des literarischen Berlins. (...)
Scharfzüngige Muse
Zur Linken der Potsdamer-Brücke, da, wo das Schöneberger- und Lützow-Ufer Charlottenburg zuführen, stehen auf dem sich erweiternden Straßenauslaufe drei kleine, graue Häuschen: Trinkhallen; die sogenannten "Sodavillen".
Die Inhaberin der Sodavilla Nr. 35 ist mit ein Stück verkörperten Berliner Lebens und zählt schon längst zu den Berühmtheiten der Stadt. Sie kennt sie alle bei Namen, die Dichter und Musiker von Werth.
Altmeister Theodor Fontane hat sie in einem seiner Romane gekennzeichnet, die stattliche, runde Gestalt der Vierzigerin, mit den rothen Wangen, den funkelnden Augen, die nach allen Seiten hin eine Hetzjagd nach neuen Gestalten anzustellen scheinen, der lauten Stimme und der sich überstürzenden Rede, die von ebenso lebhaftem Geberdenspiel begleitet ist.
Keine Erstaufführung moderner Stücke im Theater, der sie nicht vom zweiten Range herab eifrig lauschend beiwohnen würde. Meistens hat ihr der Verfasser selbst oder dessen Verleger das Billet gutmüthig lächelnd oder in übermüthiger Laune in die Hand gedrückt und sich vielleicht im Geiste schon am Schauspiele ergötzt, das sie am folgenden Morgen bieten würde, wenn der Bericht über Erfolg oder Nichterfolg mit echtem Freundeseifer und noch echterer Naschmarktweibs-Beredsamkeit über ihre Lippen käme. (...)
Ueberfüllt fast sind die großen Wagen der Pferdebahn, die unter lautem Geklingel dem Westen zuziehen . . . zum zoologischen Garten. Und von dort aus führt die Stadtbahn in wenigen Minuten nur hinaus ins Grüne, an die blaugrauen, kleinen Seen der Mark, um die herum in moosigem Grunde die dunklen, düsteren Fichten wachsen. (...)
Vorläufig jedoch haben Frost und Wind noch nicht genügend ihrem Herrscherthum entsagt, als daß es räthlich wäre, die Stadt zu meiden. Wozu auch? Sie bietet ja der Zerstreuungen und Anregungen so viele - für jedermann.
Die Anschlagsäule, da, knapp an der Brücke, leuchtet nur so von bunten Zetteln: Reichshallen, Wintergarten, Feenpalast, American-Theater - das sind so recht die Vergnügungen des Bürgerthums. Zur Fastnachtszeit, da waren alle diese Specialitäten-Theater, in denen für gewöhnlich ungewöhnliche Schlangenmänner die Glieder verrenken und rothgeschminkte, abgehärmte Clowns ihre lustigen Schnurren erzählen, in denen starke Männer vom Trapez die Luft durchfliegen und schön gewesene Weiber ihre Zoten bald in französischer, bald in deutscher Zunge singen, von Zeit zu Zeit in Ballräume umgewandelt. Die großen Maskenbälle des Wintergartens! Für das "Volk" freilich ist dieses zu theurem Preise feilgebotene Laster nicht. (...)
Zwei Bühnen des realistischen Berlins hat das Märchen sich erobert. Im königlichen Schauspielhause spielt man die Sagendichtung "Vasantasena" des altindischen Königs Sudraka, im Deutschen Theater Ludwig Fuldas Märchendichtung "Der Talisman". Mehr der Wirklichkeit angehörend ist August Strindbergs Tragikomödie "Die Gläubiger" im Residenz-Theater. Scharf, erbarmungslos hat der schwedische Dichter das Parasitenweib gezeichnet, das ihr Wissen und Können aus zwei Männern saugt, die sie angeblich Beide liebt und Beide zu Grunde richtet.
Verlorene Tochter
Im Lessing-Theater erlebte Hermann Sudermanns letztes Drama "Heimat" seine fünfzigste Wiederholung. Magda, die Tochter des Generals Schwartze in . . . sagen wir Königsberg - hat als siebzehnjähriges Mädchen das Haus des Vaters verlassen, der sie zu einem verhaßten Ehebunde zwingen wollte. Durch Noth und Elend hat sie sich ihren Weg gebahnt und ist zur großen Sängerin geworden; freilich erst, nachdem sie alle Qual des Daseins kennen gelernt und auch die Schuld auf sich genommen hat. Zwölf Jahre war sie dem Elternhause fremd. Zwölf Jahre lang hat der Vater nicht nach seines Kindes Schicksal gefragt. Nun kehrt sie zurück. (...) Allabendlich sind die Räume des Lessing-Theaters überfüllt, und das Publicum ist nicht stets so tolerant als der Dichter. Heiße Debatten entbrennen und dauern oft noch fort, wenn sich der blaue Sternenhimmel längst wiederum über den Häuptern der Streitenden wölbt und die leise rauschenden Wasser zu ihren Füßen hinziehen - unter der Potsdamer Brücke.
Der hier in Original-Rechtschreibung wiedergegebene, gekürzte und um Zwischentitel ergänzte Artikel erschien am 30. März 1893 in der "Wiener Zeitung" unter der Überschrift "Ueber die Potsdamer Brücke" (hier kann der Text in voller Länge nachgelesen werden). Zwar wurde nach damaliger Gepflogenheit der Name der Verfasserin Frida Uhl (1872-1943) nicht genannt, es dürfte aber ganz Wien gewusst haben, dass sich hinter den drei Sternchen als Autorenzeichen die Tochter von "WZ"-Chef Friedrich Uhl verbarg.
Erst wenige Tage zuvor war in der Donaumetropole die Verlobung der damals 21-Jährigen mit dem (im Text zweimal erwähnten) als "Weiberhasser" verschrieenen Literaten August Strindberg (1849- 1912) bekannt geworden - ein Skandal. Frida war seit 1892 als Korrespondentin in Berlin und genoss das freiere Leben der deutschen Hauptstadt in vollen Zügen. Ob man dem Text anmerkt, dass er auf Wolke Sieben verfasst wurde? (reis)