Er ist "der sonderbarste Mann, den ich bis jetzt habe kennen gelernt. Er hat viel Genie und große Verdienste um die Thierheilkunde (...), dabey aber auch den irrigen Grundsatz, daß man immer einen besonderen Weg gehen müße, und daher kommt es denn auch, daß sich manche seiner Handlungen weder durch Theorie noch Erfahrung vertheidigen lassen." Diese Zeilen stammen aus der Feder des Arztes Franz Olberg um 1790, der ein Kollege des in der Zusatzorchidee der Nro. 438 Gesuchten war. Dessen Namen nennt Johann Maierhofer, Breitenau: Johann Gottlieb Wolstein (auch Wollstein).
Zu seiner Herkunft informiert DI Gerhard Raimann, Alland: Er wurde "1738 in Flinsberg, Schlesien, geboren". Brigitte Schlesinger, Wien 12, schließt an: Der malerische Kurort, heute Świeradów-Zdrój, liegt im jetzt polnischen Abschnitt des Riesengebirges, also im damals zur k.k. Monarchie gehörenden Teil Schlesiens. Nachdem der erbitterte Machtkampf zwischen Maria Theresia und Friedrich II. zum Siebenjährigen Krieg (1756- 1763) geführt hatte, fiel das Kronland endgültig großteils an Preußen. Wolstein verbrachte aber seine Kindheit und Jugend in einem protestantisch-bürgerlichen Elternhaus - "ungetrübt von diesen Konflikten".
Schon als Halbwüchsiger begann er sich für Medizin zu interessieren, wie Mag. Luise & Ing. Konrad Gerstendorfer, Dt.-Wagram, festhalten: So absolvierte er "eine kurze Lehrzeit bei einem Barbier." Anschließend konnte er sich der "niederen Chirurgie" widmen, die ihn zur Durchführung kleinerer Eingriffe wie Schröpfen, Aderlass etc. befähigte.
Geförderter Medicus
Im Zuge des Siebenjährigen Krieges "kam er 1760", so Dr. Alfred Komaz, Wien 19, "als Begleiter eines schwerverwundeten Offiziers ... nach Wien". Priv.-Doz. Dr. Monika Huber, Arbesbach, weiter: In der Donaumetropole begann er das "Studium der Chirurgie, Geburtshilfe und Medizin".
Maria Thiel, Breitenfurt, fand Informationen des Evangelischen Museums Österreich (Wien 5): "Einer seiner Lehrer war Heinrich von Crantz, der ihn als besonders talentiert dem Leibarzt Kaiser Josephs II., Giovanni A. Brambilla, vorstellte ... Dieser veranlasste, dass Wolstein auf Staatskosten von 1769 bis 1773 zu weiterem Studium an die neue königliche Veterinärschule in Maison-Alfort bei Paris geschickt wurde."
Der Student, so Ing. Helmut Penz, Hohenau/ March, "vertiefte seine Kenntnisse durch Reisen nach England, Holland, Dänemark und Preußen". Er promovierte "1775 in Jena".
Helmut Erschbaumer, Linz, notiert: Zurück in Wien "entwarf er auf kaiserlichen Befehl einen Plan für das "k.k. Thierspital" mit der angegliederten "Vieharzneyschule"".
Dr. Wilhelm Richard Baier, Graz-Andritz, dazu: "1777 erfolgte die Eröffnung". Das Institut ist der Vorläufer der heutigen Veterinärmedizinischen Universität Wien, deren Entstehung Thema in den vorigen Zeitreisen war.
Wolstein wurde als Leiter der Anstalt eingesetzt. Wie Gerhard Toifl, Wien 17, recherchierte, geben einige Quellen an, dass er damit als "erster in Österreich ... angestellter Protestant im Staatsdienst" gilt.
Verjagt aus Wien
Im selben Jahr 1777 hielt auch ein anderes Ereignis Wolstein auf Trab. Mag. Elisabeth Huberger, Wien 22: Sein Sohn Lentulus wurde geboren. Allerdings fehlen "Beweise für eine Eheschließung" - der Bub kam "wohl unehelich zur Welt". Erst 1789, im Jahr des Sturms auf die Bastille, gab es eine Hochzeit mit Justine Helmrich, einer liberal eingestellten Protestantin aus Celle bei Hannover. Eine Schwester der Gattin war übrigens "mit Josef Hajnòczy verheiratet", der 1795 als ungarischer Jakobiner (und damit Kämpfer für die revolutionären Ideale) hingerichtet wurde. (N.B. Der Unglückliche war auch mit dem gleichgesinnten "WZ"-Chefredakteur Conrad Dominik Bartsch befreundet gewesen).
Wolstein selbst trat offen für aufklärerische Ideen ein. Mit Franz II., der ab 1792 Kaiser war, wehte in der Habsburgermonarchie ein anderer Wind. Er ging mit größter Härte gegen liberal Gesinnte vor.
Einen ersten Hinweis, wie es dem Mediziner ergangen war, liefert DI Karin Endler, Wien 23, die in der "Wiener Zeitung" vom 14. Februar 1795 folgende Zeilen fand: Der "Direktor und Professor der Vieharzneyschule, Wollstein," ist "seiner Stelle entsetzt worden". Die Zeitreisende schlug auch im "Wurzbach" (Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, 1856ff) nach. Dort heißt es: Bis 1795 "hatte Wolstein an der Spitze des durch ihn organisirten (sic) und zur Berühmtheit gelangten Wiener Thierarzenei-Institutes gewirkt, als er plötzlich auf allerhöchsten Befehl seines Dienstes enthoben wurde und die Weisung erhielt, Oesterreich zu verlassen. Ob diese Verbannung seiner freisinnigen Tendenzen, seiner Sympathien mit Frankreich wegen, die er gar nicht verhehlte, oder aus anderen Gründen erfolgt war, ist nie recht aufgeklärt worden."
Gesandter i.R. Dr. Josef Litschauer, Wien 10, erinnert an den einstigen Zeitgeist: "Vergessen wir nicht, dass viele Intellektuelle in der sogenannten Jakobinerbewegung eine Rolle spielten bzw. mit ihr sympathisierten. Die reaktionäre Innenpolitik dieser Zeit richtete" sich besonders "gegen Freimaurer - Wolstein war einer von ihnen -, (Ex-)Jesuiten, Juden und alle, die mit liberalen Ideen (im Ausland) in Berührung gekommen sein könnten. Wolstein passte perfekt in diese Kategorisierung."
Ing. Alfred Kaiser, Purkersdorf: Der Arzt war "inhaftiert und in einem kriegsgerichtlichen Verfahren zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt" worden. Der Rechtsspruch "wurde jedoch über allerhöchsten Entscheid auf Verlust seiner Professur und des Direktorats sowie mit einem Landesverweis abgemildert." Dr. Alfred Kopecek, Wien 2, ergänzt: Sein Institut wurde zur k.k. "Militair-Thierarzneyschule ... und dem Kriegsministerium unterstellt."
Zufluchtsstätte Altona
Wolstein zog es in den Norden. Dr. Karl Beck, Purkersdorf, notiert: "Ab 1795 praktizierte er in Altona" (heute Teil Hamburgs), das unter dänischer Herrschaft stand. Dr. Manfred Kremser, Wien 18, dazu: Er erkor Altona zur Wahlheimat, da die Stadt "1789ff aufgrund der liberalen Gesinnung der Behörden ein Refugium für religiös oder politisch Verfolgte" war. Manfred Bermann, Wien 13: Wolstein wurde "hochgeehrtes Mitglied verschiedener Fachgesellschaften" und erhielt 1813 sogar das Ritterkreuz des königlich dänischen Dannebrog-Ordens. Der aus der Donaumonarchie Verbannte verstarb im hohen Alter von 82 Jahren in der Stadt an der Elbe.
P.S. All jenen, die am Schicksal eines Gesinnungsgenossen Wolsteins interessiert sind, ist der historische Roman "Licht der Freiheit" von Alexander Giese (1993, Herbig) zu empfehlen. Er handelt vom Wiener Magistratsrat Martin J. Prandstetter, der unter dem "guten" Kaiser Franz verfolgt wurde. Das vergriffene Werk ist noch gebraucht zu finden.
Zusammenstellung dieser Rubrik: Christina Krakovsky