Es war einmal . . . das Wiener Kaffeehaus. Zwar giebt es noch heute Kaffeehäuser in Wien in Hülle und Fülle, aber das alte, das eigentliche Wiener Kaffeehaus existirt nicht mehr. Es ist aus ihm das moderne Café geworden, ein Zwitter, der nicht mehr nur Kaffeehaus und doch auch noch nicht Café-Restaurant ist. Ehedem, wir sprechen von den Jahren etwa von 1830 bis 1870, bekam man nur Kaffee und Chocolade (...).
Heute erhält man in den Wiener Kaffeehäusern zum Frühstück und Abends nach dem Theater Thee, Kaffee, kalte Speisen, Eier in verschiedener Form, aber zum völlig ausgebildeten Pariser Café-Restaurant hat man es in Wien nicht gebracht. (...) Die Wiener liebten und lieben die Gesellschaft, sind am liebsten heiter mit den Heiteren. Das Kaffeetrinken im Kaffeehause war ihnen eigentlich immer Nebensache. Sie zahlten mit dem Getränke, der "Schale", in welcher sich der schwarze oder durch Milch denaturirte Mocca befand, eine Art Eintrittsgeld. (...)
Spitzel am Nebentisch
Das Wiener Kaffeehaus war das Forum Wiens, mit dem Unterschiede, daß das Volk sich nicht in einem großen öffentlichen Raume, sondern in hundert, ja tausend kleinen Sälen und Zimmern versammelte. In den Kaffeehäusern Wiens wurde, soweit dies von der "hohen Obrigkeit" gestattet war, öffentliche Meinung gemacht. Man konnte in denselben ziemlich unbefangen über Alles sprechen, über den neuen Adler . . . der auf dem Stephans-Thurme bei der Restaurirung des letzteren gepflanzt wurde, und über die neueste Posse, in der Johann Nestroy und Wenzel Scholz im Leopoldstädter Theater spielten.
Es fehlte in den Wiener Kaffeehäusern auch nicht an "Spitzeln", denen man es mehr oder minder ansah, daß sie sich mit dem sauberen Geschäfte des Zutragens befaßten; schlimmstenfalls erfolgte eine Vorladung zur Polizei, bei der es zu einer sanften Ermahnung kam. Man war eine Zeit hindurch etwas gedrückt, raisonnirte aber dann lustig oder traurig weiter.
Die Zeit, von der ich spreche, war jene des Decenniums vor 1848. Die Landstube und die Salons einiger Adeliger und höheren Beamten ausgenommen, wurde damals nirgends eifriger politisirt als - nicht in offenen Debatten, sondern heimlich, halblaut, flüsternd, verstohlen - in den Wiener Cafés, und zwar in einigen der "Inneren Stadt", der Wiener Kern war von Festungsgräben und Mauern umgeben.
Aber nicht nur über Politik, sondern auch über Literatur und Kunst wurde da vorgedacht und nachgesprochen. Die österreichischen Zeitungen selbst boten keinen Anhaltspunkt, desto mehr die deutschen Blätter, die "Allgemeine Zeitung" z.B., der man den Eintritt gestattete. Was man bei uns unternahm, that man fast immer nur halb, glücklicherweise, möchte ich in diesem Falle hinzusetzen. Wer ein feines Ohr besessen hätte, würde bereits das unterirdische Grollen und Quellenmurmeln gehört und ein scharfes Auge die Palmkätzchen der Freiheit erblickt haben. Man lieh einander die frisch angelangten grünen Hefte der "Grenzboten" (liberales Blatt, Anm.), nachdem man sich vorsichtig umgeschaut, ob jemand den Frevel bemerke.
Mimen als Stammgäste
Es gab in Wien Kaffeehäuser, in denen man der Zeitungslectüre besonders oblag. Die Gesellschaft, welche sich da versammelte, war zumeist gemischt. Man pflegte Verschiedenes zu besprechen, Alles durcheinander, wie es gerade kam, wie es gerade paßte; man war nicht pedantisch, nicht wählerisch, wenn nur etwas Interessantes vorgefallen war, worüber man etwas zu sagen oder zu hören hatte. Dennoch gab es in einigen der bekanntesten Wiener Kaffeehäuser Kreise, in welchen man sich um einen bedeutenden Mann, welcher in diesem Local den Ton angab, gruppirte. Es war die Glanzzeit des Neunerischen, des sogenannten "silbernen Kaffeehauses", als Nikolaus Lenau daselbst rauchte und sann, hie und da sprach oder sich herabließ, Mensch mit Menschen zu sein und Billard zu spielen.
Unfern dem alten Operngebäude, im Bürgerspitale, versammelte sich Alles, was mit der Oper Wiens zusammenhing, mitthätig oder mitleidend war. (...) Die Burgtheater-Schauspieler sammelten sich "bei Grien-steidl" neben dem alten Burgtheater. Sie gaben sich in fast abgeschlossenen Räumen der Kunst des Kartenspielens, des Tarock oder des Whist, bis zu dem Augenblicke und manchmal kurze Zeit über denselben hinaus hin, wo der Theaterdiener ängstlich und halblaut in das Zimmer eintrat und verkündete, es sei höchste Zeit, daß der betreffende Herr sich zum Ankleiden in seine Garderobe zu begeben habe, ein Ruf, der nie mit Frohlocken aufgenommen wurde.
Man nannte die Wiener Kaffeehäuser immer nach dem Namen des Besitzers, im Gegensatze zu den Gasthäusern, welche meist einen Helden oder (...) ein Thier auf dem Aushängeschilde trugen. Man sagte: Ich gehe zum "Goldenen Lamm", zum "Weißen Roß", sprach aber immer: Nach dem Essen begebe ich mich zum Neuner, zum Griensteidl, zum Daum oder zum Leibenfrost.
Ausbrechende Vulkane
Daum war das vornehmste Kaffeehaus in Wien. Es lag in einem Hause des Kohlmarktes unfern der Burg. Es war das aristokratische Kaffeehaus, jenes der Offiziere und nach dem Essen auch kurze Zeit der Versammlungspunkt junger Aristokraten, liberaler und später vom Liberalismus abgefallener Advocaten. Abends nach dem Theater versammelten sich an den Tischen im Mittelzimmer Journalisten, Correspondenten auswärtiger politischer Blätter, Adjutanten höherer Militärs und Generalstabs-Offiziere (...), um öffentliche Angelegenheiten und manchmal auch recht private zu besprechen. (...)
Eines der interessantesten Wiener Kaffeehäuser war jenes bei Leibenfrost. Dort versammelte sich eine sehr gemischte Gesellschaft in drei Zimmern - eigentlich kann man sagen: Löchern. In dem ersten saßen die Gebrüder (Albert, Georg und Gabriel, Anm.) Decker, Maler von Begabung (...). Dort kehrte auch bisweilen der schlanke, hoch aufgeschossene, ernste (August Xaver Karl, Anm.) Pettenkofen ein und noch viele andere gute Menschen, wenn auch nicht der Unsterblichkeit angehörende Künstler, welche sich an den Fenstern über die Vorübergehenden lustig machten, hie und da eine Caricatur entwarfen und sich nach gethaner Arbeit eine Plauderstunde gönnten, besprachen, wo sie den künftigen Sommer zubringen würden, und berathschlagten, in welches Gasthaus sie sich bei Einbruch der Dunkelheit begeben sollten. Auch in dem letzten Zimmer saßen Maler, der poetische, wortkarge Dannhauser (Josef Franz Danhauser, Anm.). Neben ihm wiegte sich oft der dicke, bäurische (Ignaz, Anm.) Raffalt (...). Dicht neben ihm thronte stundenlang (Karl, Anm.) Tausenau, ein Mann, der sich durch Shakespeare-Studien zur Geschichtsauffassung emporgearbeitet hatte und so lange über den großen Dramatiker sprach, bis das Jahr 1848 das große Buch zuschlug und ihn (...) auf die Straße warf (...). Der Mann war in den Revolutions-Monaten zu einem Volksredner geworden und entlud seinen Groll in brausenden Reden. (...) Einen größeren Gegensatz konnte es nicht geben als den oft neben Tausenau sitzenden J. A. Becher, einen langen, hageren Norddeutschen, der (...) hier als Musikkritiker sein Leben fristete. Man konnte vielleicht ahnen, daß Tausenau eines Tages politisch-vulcanisch ausbrechen werde, Becher aber verrieth nie den Freiheitsdrang, der in seinem Innern tobte, und ist erst im Jahre 1848, wo er den Tod "durch Pulver und Blei" erlitt, aus dem Kreise, den er sich gebildet hatte, herausgesprungen. (...) Wer den langen, hageren, fast wie der entsetzliche Sensenmann aussehenden Künstler durch die Straßen eilen sah, den Cylinder auf dem Kopfe und ein Gewehr auf der Schulter, während die langen, spärlichen, blonden Haare rückwärts im Winde flatterten (...), konnte sich trotz der blutig-ernsten Lage an manchen Tagen des Kopfschüttelns, vielleicht auch des Lächelns nicht enthalten.

Friedrich Uhl (1825-1906) musste anno 1900 nach 28 Jahren als "WZ"-Chef seinen Hut nehmen.
- © Bild: Archiv; bearb. v. Ph. AngelovDer hier in Original-Rechtschreibung gekürzt wiedergegebene Artikel ist unter der Überschrift "Wiener Kaffeehäuser" am 31. Mai 1900 in der "Wiener Zeitung" erschienen (Zwischentitel wurden ergänzt). Auf ANNO kann er in voller Länge nachgelesen werden. Der angesehene Feuilletonist und Theaterkritiker Friedrich Uhl (1825-1906) hatte 1872 das Ruder in der "WZ"-Redaktion übernommen. Dass er als junger Dichter in der 1848er-Revolution gekämpft hatte, hängte man nicht an die große Glocke - in Franz Josephs Ära schickte sich das nicht für den Leiter unseres Blattes.
Der 31. Mai 1900, an dem das Feuilleton erschien, war der letzte Tag, an dem Uhl an der Spitze der "WZ" stand. Seinen Posten musste er räumen, nachdem im Dezember 1899 ein Weihnachtsfeuilleton erschienen war, das den Unmut klerikaler Kreise erweckt hatte. In dem von einem anderen Autor verfassten Text war von der "Jesus-Geburts-Sage" die Rede gewesen. Mit seinen Betrachtungen über die Kaffeehäuser, in denen im Vormärz "die Palmkätzchen der Freiheit" sprossen, verabschiedete sich der Doyen als "WZ"-Chef. (reis)