Wahrscheinlich lasen etliche Wienerinnen und Wiener bei einer Tasse Kaffee folgende Zeilen im "Wienerischen Diarium" vom 8. Januar 1774: Die Amerikaner aber haben schon vor etlichen Jahren aufgehöret, englischen Thee zu trinken . . . Wie schicksalhaft diese Aussage für die 13 britischen Kolonien jenseits des Atlantiks sein sollte, konnte man damals nur ahnen.

Zwei Tage nach dieser Meldung, die am 14. Dezember 1773 aus London in die Donaumetropole geschickt worden war, ereignete sich die später spöttisch so genannte "Boston Tea Party": Hunderte Kisten Teeblätter, die die englische Ostindienkompanie mit Zollaufschlag verkaufen wollte, wurden ins Meer geworfen. Die weißen Amerikaner wollten bestimmte Steuern nicht mehr zahlen.

Hautnah am Geschehen waren "Diarium"-Leserinnen und -Leser auch am 18. Mai 1776, als so rasch wie posttechnisch möglich über Amerika berichtet wurde.  
- © WZ-Faksimile: M. Szalapek

Hautnah am Geschehen waren "Diarium"-Leserinnen und -Leser auch am 18. Mai 1776, als so rasch wie posttechnisch möglich über Amerika berichtet wurde. 

- © WZ-Faksimile: M. Szalapek

Das "Wienerische Diarium" schrieb in den 1770ern regelmäßig über die Unruhen in Amerika - als Teil seiner Berichterstattung, die Leserinnen und Lesern Neuigkeiten aus verschiedenen Erdteilen lieferte.

Am Sonnabend den 18. May 1776 meldete es aus London vom 3. des Monats, daß es den Amerikanern recht Ernst geworden ist, die Kriegsoperationen anzufangen. Seit Jahresbeginn hatte das Wiener Blatt in ausnahmslos jeder seiner "posttäglich" (jeweils mittwochs und samstags) erscheinenden Ausgaben über den Konflikt berichtet.

Das "Diarium" wurde damals von den liberal eingestellten Ghelen’schen Erben verlegt. Die Redaktion spürte, dass in Amerika Epochales im Gange ist:

Der Meldung aus London von Anfang Mai wird auf Seite 2 des kleinformatigen Blattes fast eine ganze Spalte eingeräumt.

So zeichnet sich die Gazette rund um das Jahr 1776 als Chronistin der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika aus und stellt damit noch immer eine wahre Fundgrube dar.

Im Stil der Zeit fließen in eher trockene Berichterstattung immer wieder Einschätzungen ein, die heute als Kommentar gelten würden. Oft bleibt unklar, ob solche Zeilen in Wien dazukamen oder aus dem englischen Originalbericht übersetzt wurden.

Informationen erhalten die Redakteure in der Donaumetropole vor allem aus London. Seitenweise drucken sie Debatten des britischen Unterhauses ab. Briefen von Augenzeugen, die von der wirklichen Lage des Krieges in Amerika berichten, wie es etwa am 25. Mai im "Diarium" heißt, wird teilweise breiter Raum gegeben.

Aber auch die Auswirkungen des Konfliktes auf innereuropäische Beziehungen bleiben nicht unerwähnt, wie etwa auf Seite 5 der Ausgabe vom 18. Mai: Der englische Botschafter hatte sich beim niederländischen Parlament beschwert, dass zwei Inseln, die unter der Herrschaft der Niederlande stehen, unerlaubten Handel (...) mit den rebellischen Colonien in America (...) unterhalten.

George Washington (ganz links) beim Porträtmaler, der von anwesenden Verwandten abgelenkt wird.  
- © Bild: NYPL/gemeinfrei

George Washington (ganz links) beim Porträtmaler, der von anwesenden Verwandten abgelenkt wird. 

- © Bild: NYPL/gemeinfrei

In den folgenden Jahren kennzeichnet die Redaktion Berichte zu den USA nicht mehr nur mit Londen, sondern auch vermehrt mit der Kontinentenzuordnung Amerika oder America sowie mit Vereinigte Staaten - eine neue Nation, über die es zu berichten gilt.

Zumeist wurden Neuigkeiten jenem Ort zugeordnet, aus dem sie in Wien eingelangt waren. So wird etwa ein Eintrag im Anhang zum Wiener-Diarium vom 5. November 1777 mit Aus den Londner Briefen vom 17. und 21. October betitelt. Den Meldungen vorangestellt wird eine Warnung:

Die Verfasser wandern, was den Krieg über dem Atlantik betrifft, noch immer in (sic) Finstern. Vom britischen Hof sei noch kein offizielles Schreiben eingelangt, das ihnen aus dem Traume hilft. Deshalb müssten sie sich mit dem, was die Brittischen Dintenklecker uns daherschreiben, oder was die (...) Blätter uns lieferen, begnügen. Das seien aber widersprechende oder unreife Dinge, die abgedruckt werden, bis uns was ächters (= Echteres, also wohl Glaubwürdigeres) zugehet.

Es folgen u.a. Zeilen von einem General an Verwandte in seiner Heimat England.

So konnte und kann in Wiens Stuben, Cafés und Amtsräumen die Geburt einer Nation mitverfolgt werden. Zu lesen ist etwa vom General der US-Truppen, George Washington (1732-1799), oder jenem der Briten bis 1778, William Howe (1729-1814). Und von der kurzfristigen Umsiedlung des Kongresses aus Philadelphia ins ca. 100km entfernte Lancaster bereits im Sommer 1776, weil sich die königliche Armee der Stadt näherte.

William Howe, Kommandant der britischen Armee 1775-1778. 
- © Bild: Archiv/gemeinfrei

William Howe, Kommandant der britischen Armee 1775-1778.

- © Bild: Archiv/gemeinfrei

Am 28. August 1776 vermeldet das "Diarium", dass sich am 4. Juli die Kolonien für freye und unabhängige Staaten erklärt haben. Am 11. September druckt es die Einstiegsworte der Deklaration ab (s. Faksimile ganz oben): Wenn es in dem Laufe der menschlichen Ereignisse für ein Volk nothwendig wird, die politischen Bande, durch welche dasselbe an ein anders Volk geknüpft ist, zu zerreissen (...), dann müsste dies samt Begründung verlautbart werden: Wir halten an und für sich selbst diese Wahrheiten genugsam bewiesen, daß alle Menschen gleich erschaffen sind. Kein Mensch - zumindest kein weißer Amerikaner - sollte anderen Untertan sein.

Die Kriegsberichterstattung sollte die Redaktion bis zum Frieden von 1783 auf Trab halten, als unsere Gazette bereits (seit 1780) "Wiener Zeitung" hieß.

Kopfnuss: Welche der 13 US-Gründungsstaaten fallen Ihnen ein? (Geknackte Kopfnuss auf der nächsten Seite)