Viel Durchhaltevermögen brauchte es seit jeher, um ein Medizinstudium abzuschließen. Neben etlichen Stunden, in denen Stoff aus dicken Bänden memoriert werden muss, ist auch ein starker Magen gefragt - man denke nur an praktische Übungen. Im Falle einer gewissen Person, um die sich die Zusatzorchidee der Nro. 440 drehte, erforderten weitere Hürden ungeheure Beharrlichkeit.

Von wem hier die Rede ist, gibt Maria Thiel, Breitenfurt, bekannt: Freiin Gabriele Barbara Maria Possanner von Ehrent(h)al (1860-1940). "Nach langen Kämpfen war sie die erste Frau, die an einer Universität in Österreich-Ungarn promovieren durfte."

Zu ihrer Herkunft recherchierte Gesandter i.R. Dr. Josef Litschauer, Wien 10: "Ihre Familie war seit den 1840er-Jahren als "rittermäßiger Adel" anerkannt, ihr Vater ... wurde 1891 in den erblichen Freiherrenstand erhoben. Ihre soziale Stellung war daher großbürgerlich/kleinadelig geprägt, sodass sie unabhängig von materiellen Sorgen mit Zielstrebigkeit und einer unendlichen Ausdauer ihre akademischen und letztlich auch beruflichen Ziele verfolgen konnte."

Gabriele Possanner (1860-1940).  
- © Bild: "Wiener Bilder" 1897; Schmuckfarbe: Ph. Angelov

Gabriele Possanner (1860-1940). 

- © Bild: "Wiener Bilder" 1897; Schmuckfarbe: Ph. Angelov

Verbotene Noten

Als junge Frau, so Mag. Elisabeth Huberger, Wien 22, besuchte sie "eine Lehrerinnenbildungsanstalt und maturierte ... an einem Wiener Gymnasium". Da dieses Privileg eigentlich Buben vorbehalten war, trat sie "als Externistin" an.

Possanner selbst erzählte später von ihren Erlebnissen. Diese Schilderungen fand Brigitte Schlesinger, Wien 12, und gibt daraus wieder: "Als ich ... als erstes Mädchen am Akademischen Gymnasium in Wien zur Matura antreten sollte, wurde für mich, trotz der Ungesetzlichkeit dieses Vorganges, ein eigener Prüfungstermin ausgeschrieben. Von 8 Uhr früh bis 6 Uhr abends stand ich allein vor der Prüfungskommission, die von dem als Gegner des Frauenstudiums bekannten Landesschulinspektor Maresch (Anton, Anm.) geleitet wurde. Schließlich erhielt ich "genügend", da Inspektor Maresch mir eine bessere Note zu geben schon im voraus verboten hatte."

Nun peilte Possanner die nächste Etappe an: Die Alma mater. Ing. Helmut Penz, Hohenau/March, dazu: "Da an österreichischen Universitäten Frauen ... nicht zum Studium zugelassen waren, inskribierte sie an der Zürcherischen Hochschule Medizin".

Doch die Institution stieß sich an dem "Genügend". Possanner musste "die Reifeprüfung nochmals ablegen", wie Dr. Alfred Kopecek, Wien 2, festhält. Bei dem diesmal fairen Examen konnte sie gute Noten vorweisen und endlich mit dem Studium beginnen.

1894 promovierte sie "an der Universität Zürich zum Dr. med.", fügt Alexander Kostka, Wien 20, an.

Schikane und Leiche

Die damals praktisch "einzige Möglichkeit ..., um in der Donaumonarchie als Ärztin tätig zu sein", nennt Herbert Beer, Wolfpassing: "Die Annahme einer Amtsärztinnenstelle in Bosnien und der Herzegowina".

In diesem Gebiet hatte das Haus Habsburg seit dem Berliner Kongress 1878 das Okkupations- und Verwaltungsrecht. Dr. Alfred Komaz, Wien 19, dazu: Nachdem sich muslimische Frauen vehement gegen Untersuchungen durch Mediziner wehrten, wurde "bereits 1891 ... die Stelle einer vom Staat beamteten Ärztin mit fixem Gehalt und im Rang eines Hauptmanns im Bezirk Dolnja-Tuzla (im Osten des Landes, Anm.) ausgeschrieben."

Doch Possanner wollte in Wien praktizieren. In den bereits zitierten Memoiren hielt die Doktorin fest: "Und hier, in meiner Vaterstadt, wiederholte sich der Kampf, diesmal um die Zulassung zu den Hochschulprüfungen." Denn das Schweizer Studium wurde ihr schlicht nicht anerkannt. Nachdem "alle Vorsprachen nichts mehr nützen wollten", reichte sie ein Gesuch an ein k.k. Höchstgericht ein - es wurde abgewiesen.

"Letztlich wandte sie sich an Kaiser Franz Joseph", wie Mag. Luise & Ing. Konrad Gerstendorfer, Deutsch-Wagram, herausfanden, "mit der Bitte, ihr die "Ausübung der ärztlichen Praxis in Österreich aller gnädigst zu bewilligen ... da zahlreiche Mädchen und Frauen sich scheuen beim Beginne einer Krankheit einem männlichen Ärzte (sic) sich anzuvertrauen, infolgedessen solche Leiden ... oft unheilbar werden."" Bestimmt jubelte die junge Medizinerin, als sie Antwort bekam: Zumindest "auf dem Gebiet der Geburtshilfe und Frauenheilkunde" sollte sie praktizieren dürfen. Voraussetzung war, dass "der Vorstand der Ersten Geburtshilflichen Klinik ihre Fachkompetenz bestätigen würde".

Gerhard Toifl, Wien 17, schließt an: Der betreffende Professor kam dem glücklicherweise nach und fügte sogar an, man solle Possanner "für das gesamte Gebiet der Medizin" zulassen - so wie es ihrer Ausbildung entsprach. Das hatte weitreichende Folgen, denn "im Zuge dieser Entwicklung entstand" eine "Verordnung der Nostrifikation (Anerkennung von Zeugnissen, Anm.) ausländischer medizinischer Doktordiplome", die "1896 tatsächlich in Kraft trat."

Sofort versuchte Possanner, ihren Doktortitel anerkennen zu lassen. Die Bedingung, die ihr gestellt wurde, nennt Helmut Erschbaumer, Linz: Sie musste "alle Prüfungen nochmals an der Wiener Universität ablegen".

"Diese Zeit ging mir besonders an die Nerven", gibt schon zitierte Geschichtsfreundin Schlesinger die Worte von Possanner wieder, "hing doch für mich alles ... vom Bestehen dieser Prüfungen ab. Dabei gab es keinen Professor, ... der meine Absichten unterstützt hätte ... Als ich mich zur Prüfung aus experimenteller Pathologie meldete, verbot der Professor seinen Assistenten, mir Kurse zu geben - er selbst wollte mich gar nicht zur Prüfung zulassen. Ich wandte mich daher an den akademischen Senat ... und wurde auch tatsächlich von einem anderen Herrn geprüft. Beim Anatomierigorosum wieder konnte man angeblich keine ganze Leiche für mich finden, nur Extremitäten. Als es zur Prüfung kam, traten die drei Mitkandidaten zurück und siehe da - ich bekam einen ganzen Leichnam allein, an dem ich die schwierigsten Sektionen durchzuführen hatte. Ueberall Schwierigkeiten, Hindernisse, schlechter Wille. "Wozu braucht das ein Mädel", sagte jeder."

"Du hast heute eine Schlacht gewonnen und dir den Lorbeer verdient" - mit diesen Worten gratulierte eine Freundin Possanner zu ihrer Promotion. Die Verleihung (hier für "WZ"-Druck koloriert) schaffte es in damalige Zeitungen.  
- © Bild: hist. Zeitungsillustration, koloriert v. Ph. Angelov. Bildertipp: DI Karin Endler (danke!)

"Du hast heute eine Schlacht gewonnen und dir den Lorbeer verdient" - mit diesen Worten gratulierte eine Freundin Possanner zu ihrer Promotion. Die Verleihung (hier für "WZ"-Druck koloriert) schaffte es in damalige Zeitungen. 

- © Bild: hist. Zeitungsillustration, koloriert v. Ph. Angelov. Bildertipp: DI Karin Endler (danke!)

Trotz dieser immensen Hürden promovierte Possanner erneut am 2. April 1897 - diesmal als erste Frau an der Wiener Universität. Manfred Bermann, Wien 13, schlug dazu in Isabella Ackerls "Wien-Chronik" (1988) nach: "Um 12.15 Uhr beginnt der Rector Magnificus, Univ. Prof. Dr. Leo Reinisch ..., mit der feierlichen Zeremonie. Nach dem lateinischen Gelöbnis der jungen Ärztin braust stürmischer Beifall der Zuhörer auf, die junge Doktorin dankt in wohlgesetzter lateinischer Rede." DI Karin Endler, Wien 23, durchstöberte alte Gazetten (Chapeau!) und wurde fündig: "Das "Neuigkeits-Welt-Blatt" vom 8. April 1897 bringt ... sogar eine ... Zeichnung der historischen Begebenheit" (siehe Bildausschnitt unten).

Eine eigene Praxis

Nachdem Possanner nun endlich praktizieren durfte, suchte sie nach einer geeigneten Ordination. Mag. Thomas Krug, Wien 1: "In Wien ließ sie sich im 9. Bezirk, Günthergasse 2, nieder." Dort bezog sie am 10. Mai 1897 ihre Praxis.

1902 nahm sie eine Stelle als Aspirantin im "K.k. Kronprinzessin-Stephanie-Spital" (Thaliastraße 44, Ottakring) an, so Dr. Karl Beck, Purkersdorf: "Bis 1903 war sie die einzige Frau, die als Ärztin in der Krankenanstalt wirkte."

Michael Chalupnik, Sieghartskirchen: Es sollte noch bis 1904 dauern, bevor "man sie als erste Frau ... in die Ärztekammer aufnahm ..., jedoch lediglich als Ersatzmitglied." Neotüftler Andreas Grünwald, Eichgraben, schließt an: Erst viel später, "mit 68 Jahren, wurde ihr der Titel Medizinalrat verliehen."

Ing. Alfred Kaiser, Purkersdorf: "Während des Ersten Weltkriegs arbeitete sie ... in Spitälern und Lazaretten." Prof. Brigitte Sokop, Wien 17: "Nach dem Krieg verlegte sie ihre Praxis in die Alserstraße 26", Wien 9.

Zu diesem Bau, in dem sie auch wohnte, fügt Alice Krotky, Wien 20, an: An dem Haus "ist eine Gedenktafel angebracht." Außerdem wurde "im 13. Bezirk ... eine Gasse nach ihr benannt. Seit 1997 verleiht das Wissenschaftsministerium den Gabriele-Possanner-Preis für wissenschaftliche Leistungen im Dienste der Geschlechterdemokratie." Zum Lebensende der Pionierin notiert die Tüftlerin: "1940 stirbt Dr. Gabriele Possanner. Sie wird auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt" (siehe Foto).

Vom Grab der Ärztin auf dem Wiener Zentralfriedhof schoss Zeitreisende Alice Krotky ein Foto - danke! 
- © Foto: Alice Krotky

Vom Grab der Ärztin auf dem Wiener Zentralfriedhof schoss Zeitreisende Alice Krotky ein Foto - danke!

- © Foto: Alice Krotky

Wie es um die Ärztinnenausbildung weiterhin bestellt war, erwähnt Dr. Manfred Kremser, Wien 18: Zwar erhielten Frauen 1900 "Zugang zum Medizinstudium", doch "erst ein Jahr später" konnten sie "die Vollmatura ablegen", die für das "Studium Voraussetzung war ... Bis 1900 durften approbierte Ärztinnen nur als unbezahlte Hospitantinnen in Spitälern ihre praktische Ausbildung absolvieren ... Ab 1920 war die vorher obligate Ehelosigkeit keine Voraussetzung mehr, um als Frau eine Anstellung in Wiener Krankenanstalten zu erhalten."

Bereits erwähnter Geschichtsfreund Bermann macht abschließend auf eine weitere frühe Medizin-Pionierin aufmerksam, die in der Zeitschrift "Ärzte Woche" (2. März 2023) erwähnt wird: Die in Salzburg ansässige Ärztin Rosa Kerschbaumer-Putjata (1851-1923), die ebenfalls in der Schweiz studiert hatte, durfte mit einer kaiserlichen "Sondererlaubnis ... ab 1890 - zehn Jahre bevor Frauen in Österreich zum Medizinstudium überhaupt zugelassen wurden - ihren Beruf ausüben".

"Ich will nur Gerechtigkeit", erklärte Possanner einst im Kampf um ihre Ausbildung, den sie ebenso für ihre Mitstreiterinnen und Patientinnen führte - übrigens unterstützt nicht nur von ihrer Familie, sondern auch von Freundinnen und Förderinnen.

Zusammenstellung dieser Seite: Christina Krakovsky