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079 - Warum junge Bulgar:innen keine Österreicher:innen mehr betreuen

Die Busfahrt ist mühsam, die Arbeit belastend: Die 24-Stunden-Betreuer:innen aus Bulgarien, die wir auf ihrer Reise in die Heimat begleitet haben, erzählen uns, warum sie die Letzten sein werden, die sich das antun.

22 Min

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16 Stunden lang braucht der Bus von Wien nach Sofia – mindestens.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Midjourney

„Wir sind die Letzten, die diese Arbeit machen", erzählt Nikol, als sie von den WZ-Redakteur:innen Simon Plank und Petra Tempfer in ihrer Heimat Bulgarien besucht wird. Nikol ist eine 24-Stunden-Betreuerin in Österreich und 52 Jahre alt. Nach mehreren Monaten in Zwentendorf ist sie nun für drei Wochen heimgefahren – nach Mesdra nordwestlich von Sofia.

Fast alle Betreuer:innen aus Bulgarien pendeln mit dem Bus. Eine Fahrt dauert mindestens 16 Stunden, falls alles glatt geht und die Staus an der Grenze nicht zu lang sind. Simon Plank und Petra Tempfer waren dieses Mal mit im Bus und haben die Betreuer:innen auf ihrer Heimreise begleitet.

Bulgarien ist das ärmste Land der Europäischen Union. „Die Jungen ziehen alle weg, gehen studieren", sagt Nikol in dieser Folge des WZ-Podcasts „Weiter gedacht" – mit dem Geld ihrer Eltern, die dafür lange Zeit im Ausland gearbeitet haben, was zum Teil mühsam und beschwerlich für sie war. 24-Stunden-Betreuer:innen werden sie, laut Nikol und ihren Kolleginnen, jedenfalls nicht mehr. Aber wer wird dann einmal die Menschen in Österreich und jene in Bulgarien betreuen?

Produziert von „hört hört!“.


In Sofia ist unsere Reise noch nicht zu Ende: Nach 16 Stunden im Bus fahren wir mit dem Zug weitere zweieinhalb Stunden lang nach Mesdra.
© Illustration: WZ
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Die 24-Stunden-Betreuerin Nikol in ihrer Küche in Mesdra bei unserer Podcast-Aufnahme.
© Simon Plank

Willst du noch mehr über Nikol und die Reise der WZ-Redakteur:innen erfahren? Es gibt bereits die Podcast-Folge 2 „Warum junge Bulgar:innen ihr Land verlassen" und die Reportage „Mit 24-Stunden-Betreuerinnen im Bus nach Bulgarien" sowie Videos auf den Social-Media-Kanälen der WZ dazu.

Zur Podcast-Folge 2:


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Infos und Quellen

Genese

Die WZ-Redakteur:innen Simon Plank und Petra Tempfer sind gemeinsam mit pendelnden 24-Stunden-Betreuer:innen im Bus von Wien nach Sofia gefahren. Sie wollten sich ein Bild der Lage im Heimatland der Bulgar:innen machen. Diese Reise haben sie mit Texten, Podcasts und Videos begleitet.

Gesprächspartner:innen

  • Nikol (der Name wurde von der Redaktion geändert) kommt aus Mesdra, einer Stadt rund 100 Kilometer nordwestlich von Sofia. In Österreich arbeitet sie über eine Vermittlungsagentur als 24-Stunden-Personenbetreuerin. Nikol absolvierte den Ausbildungskurs zur Krankenpflegerin an der Universität Gabrovo in Bulgarien. Seit rund 30 Jahren pendelt sie zwischen Bulgarien und dem Ausland: Zuerst arbeitete sie viele Jahre in Griechenland in einer Bäckerei, startete 2016 als 24-Stunden-Betreuerin in Deutschland und betreut heute einen Patienten in Niederösterreich.
  • Raya (der Name wurde von der Redaktion geändert) ist 57 Jahre alt, arbeitet als 24-Stunden-Personenbetreuerin in Salzburg und kommt aus einem Dorf, das 300 Kilometer von Sofia entfernt ist.
  • Diana Georgieva ist Präsidentin der Bulgarian Association of Health Professionals in Nursing (BAHPN) mit Sitz in Sofia. Diese setzt sich unter anderem für die Rechte und fairen Arbeitsbedingungen der bulgarischen Pflegekräfte ein.

Daten und Fakten

  • In Österreich gibt es rund 600 Vermittlungsagenturen, die Personenbetreuer:innen mit Gewerbeschein vermitteln. Das Honorar beträgt je nach Qualifikation zwischen 78 und 107 Euro pro Tag. Die Betreuer:innen dieser Agenturen kommen etwa aus Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Polen oder der Ukraine.
  • Personenbetreuer:innen in Österreich sind in den meisten Fällen selbstständige Unternehmer:innen und zur Gewerbeanmeldung verpflichtet (Wirtschaftskammer Österreich).
  • Betreuer:innen sind keine Pfleger:innen. Im Unterschied zu Pfleger:innen dürfen sie zum Beispiel keine Spritzen verabreichen und ihre Patient:innen nur bei alltäglichen Tätigkeiten unterstützen (Wirtschaftskammer Niederösterreich).
  • Im Jahr 2007 wurden die Rahmenbedingungen für eine qualitätsgesicherte 24-Stunden-Betreuung auf legaler Basis geschaffen. Gleichzeitig wurde auf Initiative des Sozialministeriums ein entsprechendes Fördermodell entwickelt (Sozialministerium).
  • Personen, die zuhause gepflegt werden, können unabhängig von ihrem Vermögen eine finanzielle Unterstützung in Form eines Zuschusses zur 24-Stunden-Betreuung erhalten. Die Betreuung muss gemäß den Bestimmungen des Hausbetreuungsgesetzes erfolgen (Sozialministeriumservice).
  • Für die Betreuung betreuungsbedürftiger Personen in privaten Haushalten gilt das Hausbetreuungsgesetz, das vorsieht, dass eine Betreuung im Rahmen einer selbstständigen oder unselbstständigen Erwerbstätigkeit erfolgen kann. Damit sind die rechtliche Absicherung der Betreuer:innen und der von ihnen betreuten Personen sowie eine praxisnahe Durchführung der 24-Stunden-Betreuung gewährleistet. Betreuung im Sinne des Hausbetreuungsgesetzes umfasst unter anderem die Hilfestellung bei der Haushalts- und Lebensführung (oesterreich.gv.at).
  • Das Sozialministerium erfasst nur jene Personenbetreuer:innen, die jemanden betreuen, der unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf eine Förderung hat (einkommensabhängig). Die meisten kommen laut Aufstellung aus Rumänien (19.806), gefolgt von der Slowakei (6.995), Kroatien (2.699), Ungarn (2.422) und Bulgarien (939).
  • Die Wirtschaftskammer Österreich hat insgesamt 57.556 selbstständige Personenbetreuer:innen erfasst.
  • Die Anzahl der anspruchsberechtigten Personen, die im Jahr 2022 Pflegegeld erhielten, liegt bei 467.157 Menschen.
  • Bulgarien ist seit dem Ende des Kommunismus 1989 eine parlamentarische Demokratie. Die seit 2020 zunehmende Fragmentierung der Parteienlandschaft hat die Regierungsbildung erschwert. Es kam mehrfach zu vorgezogenen Parlamentswahlen. Aus den letzten Wahlen am 27. Oktober 2024 ist eine Mehrparteienregierung unter Ministerpräsident Rosen Zhelyazkov hervorgegangen (Auswärtiges Amt).
  • Seit 2007 ist Bulgarien Mitglied der Europäischen Union. Das Land hat 6,5 Millionen Einwohner:innen. Der durchschnittliche Nettojahresverdienst eines Bulgaren oder einer Bulgarin beträgt 9.355 Euro (2023, Statista). Das sind monatlich 779 Euro.
  • Auf dem ersten Platz der ärmsten Länder der Europäischen Union befindet sich Bulgarien. Mit einem BIP pro Kopf von 59 Kaufkraftstandards liegt das Land deutlich hinter den anderen EU-Mitgliedstaaten (Handelsblatt).
  • In der EU sind 94,6 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Mehr als jede:r fünfte in einem Haushalt mit unterhaltsberechtigten Kindern lebende Europäer:in ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Außerdem sind 31 Prozent der in Privathaushalten lebenden Europäer:innen nicht in der Lage, unerwartete Finanzausgaben zu bestreiten. Das Armutsrisiko ist in Rumänien und Bulgarien am höchsten, in Tschechien und Slowenien am geringsten (Europäische Union).
  • Rund 31,6 Prozent der Frauen sind von Armut bedroht.
  • Bulgarien ist eine stark alternde Gesellschaft. Das Land verliert aufgrund von Auswanderung, einer niedrigen Geburtenrate und einer relativ niedrigen Lebenserwartung jedes Jahr an Einwohner:innen. Waren es vor rund 30 Jahren noch 9 Millionen Einwohner:innen, so sind es heute laut Statista nur noch 6,5 Millionen.
  • Die Währung Bulgariens ist der Lew. Am 1. Jänner 2026 soll der Euro eingeführt werden.
  • Die Korruption in Bulgarien liegt, verglichen mit anderen Ländern, im mittleren Drittel: Laut Transparency International lag Bulgarien im Jahr 2024 auf Platz 76 von 180. Zum Vergleich: Österreich belegte Platz 25. Das Schlusslicht bildete der Südsudan.
  • Was die Schattenwirtschaft betrifft, so erlebte Bulgarien laut einer von Visa Bulgaria in Auftrag gegebenen und von der Unternehmensberatung Kearney durchgeführten Studie bis 2017 einen moderaten, aber stetigen Rückgang: Die Schattenwirtschaft ging demnach von fast 32 Prozent auf 30 Prozent des BIP zurück. Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie kehrte diesen Trend jedoch um und trieb den informellen Sektor bis 2023 auf 34,6 Prozent des BIP – das entspricht 60 Milliarden Lew (30 Milliarden Euro) und der höchsten Rate in der EU, so die Studie. In sechs Sektoren, darunter Gastgewerbe, Landwirtschaft und Bauwesen, liegt die Schattenwirtschaft demnach bei mehr als 50 Prozent, wobei der Groß- und Einzelhandel sowie das verarbeitende Gewerbe die höchsten absoluten Werte aufweisen.
  • Mesdra liegt nordwestlich von Sofia im Verwaltungsgebiet Wraza, das zu den ärmsten Regionen des Landes zählt.

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Mesdra ist Teil der Oblast Wraza im Nordwesten Bulgariens.
© Illustration: WZ

Quellen

Das Thema in der WZ

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