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018 - Nackt und schreiend auf der Bühne

Regisseur:innen inszenieren mittlerweile fast alles, was die Autor:innen aus guten Gründen nicht geschrieben haben: So beschreibt der Kultur-Experte Edwin Baumgartner, der auch Redakteur der WZ ist, das Regietheater. Geheilte werden zu Toten und Könige zu Krebsärzten. Das Problem dabei: Das Regietheater nimmt überhand. Es werden keine Stücke mehr inszeniert, sondern Inszenierung geskriptet – und zwar ohne Stück, sagt Edwin Baumgartner im Gespräch mit WZ-Redakteurin und Host Petra Tempfer. Es gibt allerdings auch positive Beispiele.

34 Min

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Es werden keine Stücke mehr inszeniert, sondern Inszenierung geskriptet – und zwar ohne Stück.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Midjourney

Ein Bub mit verkrüppeltem Bein wird zum Krebskranken, und am Ende verlässt er die Bühne nicht geheilt, sondern er stirbt: So hat der norwegische Regisseur Stefan Herheim die Oper „Amahl und die nächtlichen Besucher" von Gian Carlo Menotti inszeniert und damit in einem Ausmaß verändert, dass die ursprüngliche Kernaussage verloren gegangen ist. Hier setzt die Kritik des Musik- und Theaterwissenschaftlers Edwin Baumgartner am Regietheater an, wenn er dieses im Gespräch mit Host Petra Tempfer als „einfach zu viel" bezeichnet.

Regie und Stück werden zu Konkurrenten. Mittlerweile gehe es sogar so weit, dass die Inszenierung über alles gestellt werde: Das Schauen ist Trumpf, der Text nur noch ein Beiwerk der Regie. Ohne nackte und schreiende Menschen auf der Bühne, die furzen, ihre Notdurft verrichten und/oder – zwecks Abwechslung – masturbieren, geht es schon gar nicht mehr, überspitzt ausgedrückt.

Es kann aber auch funktionieren. Und zwar dann, wenn die Ideen des Regisseurs oder der Regisseurin mit dem Grundgedanken des oder der Autor:in übereinstimmen, sagt Edwin Baumgartner. Dem Regisseur Patrice Chéreau sei das zum Beispiel mit Richard Wagners Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen" gelungen. Warum? Nicht die Provokation stehe im Vordergrund, sondern die Interpretation.


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Infos und Quellen

Genese

Eigentlich wollte WZ-Redakteurin Petra Tempfer mit dem Kultur-Experten Edwin Baumgartner in dieser Podcast-Folge über das Versdrama sprechen: zum Beispiel über Goethes „Faust”, mit dem fast jeder zumindest im Zuge des Schulunterrichts in Berührung kommt. Dazu kam es jedoch nicht. Denn Edwin Baumgartner brannte ein anderes, wenngleich verwandtes Thema auf der Seele. Die Theatersaison habe soeben wieder begonnen, sagte er, und mit ihr das Regietheater. Mit diesem sind Inszenierungen gemeint, bei denen sich der Regisseur mitunter über den Inhalt des Stückes stellt. So kam es, dass Petra Tempfer spontan das Thema änderte – und mit Edwin Baumgartner über das Regietheater sprach.

Gesprächspartner

Kultur-Experte Edwin Baumgartner im Podcast-Studio von Missing Link.
Kultur-Experte Edwin Baumgartner im Podcast-Studio.
© Rainer Klement

Edwin Baumgartner hat Musik-, Theaterwissenschaft und Komposition studiert. Seit mehr als 30 Jahren ist er bei der WZ als Redakteur tätig. Seine Kompositionen wurden in Europa und Asien aufgeführt. Zusätzlich hat er zwei Bücher geschrieben, die im Claudius-Verlag herausgekommen sind: „Schmäh“ und „Wiener Wahn“ befassen sich mit den Untiefen der Wiener Seele; zusammen mit den Autorinnen Doris Kloimstein und Ingrid Schramm hat er bei Goldegg den Band „Nennen wir ihn Rumpelstilzchen“ mit kuriosen Geschichten über Schriftsteller:innen herausgebracht.

Daten und Fakten

YouTube-Videos einzelner Inszenierungen (Titel/Regisseur:in):

Quellen

Archiv:

Vom Regietheater wenig überzeugt war man schon vor fast 100 Jahren. Die Wiener Zeitung schrieb am 24. Juni 1930 über den 3. internationalen Schauspielkongress in Wien auf Seite 7:

Die letzten Jahre brachten der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger neue und schwere Aufgaben. War schon in den letzten vier Jahren eine Reihe von sogenannten Inflationstheatern nach und nach verschwunden, so griff die Abbaubewegung in den letzten beiden Spielzeiten bereits an traditionsverwurzelte Theaterbetriebe, um in den letzten Etatberatungen der Gemeinden und Länder die Fortführung fast aller Theater zumindest in ihrem bisherigen Umfang in Frage zu stellen. Die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger bewies in fruchtbarer praktischer Arbeit, dass in erster Linie einer nachweislichen Unwirtschaftlichkeit in der Betriebsführung der Regietheater gesteuert werden müsse, bevor man zu anderen Maßnahmen schreitet [im damaligen Amtsdeutsch wurde das Verb steuern mit dem Genetiv verwendet, im heutigen Sinne grammatikalisch richtig heißt dieser Satz folgendermaßen: Die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger bewies in fruchtbarer praktischer Arbeit, dass in erster Linie eine nachweisliche Unwirtschaftlichkeit in der Betriebsführung der Regietheater gesteuert werden müsse, bevor man zu anderen Maßnahmen schreitet, Anm.].

Screenshot mit Text über Regietheater in der Wiener Zeitung vom 24. Juni 1930 auf Seite 7.
Über die „nachweisliche Unwirtschaftlichkeit" des Regietheaters schrieb die Wiener Zeitung auch am 24. Juni 1930 auf Seite 7.
© 24. Juni 1930, Seite 7, ANNO/Österreichische Nationalbibliothek

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