Ich bin siebzehn und besuche die dritte Klasse Handelsakademie einer niederösterreichischen Kleinstadt. Wir haben an diesem Samstag im Jahr 1983 nur drei Stunden Unterricht. Heute beginnt er mit Stenotypie und Textverarbeitung. Wir können schon fast 160 Silben pro Minute stenografieren. "Eilschrift" nennt sich das. Wir sollen damit zum Schulschluss die staatliche Stenotypisten-Prüfung bestehen.
Unser Professor diktiert und wir stenografieren. Ein Schüler, der sichtlich Probleme mit der Eilschrift hat, wird von ihm zur Tafel gerufen. Als er gleich erste Schwächen zeigt, erinnert ihn der Professor eindringlich, die Eilschrift-Kürzeln nachzulernen.
Die zweite Stunde beginnt mit einer Zehn-Minuten-Abschrift auf elektrischen Schreibmaschinen. Die Typenrad-Geräte machen weniger Lärm als jene mit dem Kugelkopf. Meine Maschine ist sogar mit Korrekturtaste und Korrekturband ausgestattet. Aber bei Prüfungen nützt die Korrekturtaste genau null, weil nur Blaupapier-Durchschläge abzugeben sind. Auf diesen sind korrigierte Fehler sichtbar und bringen schlechte Bewertungen. "Die Korrekturtaste gewöhnt ihr euch am besten gleich gar nicht an", hat unser Professor von Anfang an geraten.
Die letzte Stunde des Tages haben wir Geschichte. Unsere junge Professorin, die auch Sport unterrichtet, ist eine echte Sportskanone. Außer Skifliegen und Formel-I-Rennfahren beherrscht sie wohl jede Sportart.
Sie kommt in die Klasse und erklärt, dass sie für die Handball-Schülermeisterschaft einige organisatorische Dinge dringend erledigen muss. Wir sollen uns daher inzwischen das Video mit der Rede zum "totalen Krieg" des NS-Reichspropagandaministers Joseph Goebbels von 1943 anschauen.
Einige Schüler, darunter ich, hören sich die Rede an. Die Klassenbesten machen inzwischen lieber Hausaufgaben. Einige Mädchen lesen "Bravo"-Hefte. Andi W. und Andi K. interessiert das Video null. Sie sind die Tennisprofis der Klasse. Am Wochenende spielen sie in der regionalen Tennis-Meisterschaft. Lange unterhalten sich über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Tennisschläger-Bespannungen und wozu ihnen diverse Experten dabei geraten haben. Aus dem Fernseher brüllt gerade der Propagandaminister der Nazis hysterisch: "Wollt ihr den totalen Krieg?"
Unsere Professorin kommt in die Klasse, schaltet ohne weiteren Kommentar Videorekorder und den Fernseher aus. Es ist schließlich 11 Uhr. Wir gehen nach Hause und ab ins Wochenende. Viele fühlen sich gänzlich unbelastet. Sie können mit Geschichte bis heute nichts anfangen.
Gerald Danner (Jg. 1965),
Bilanzbuchhalter,
1090 Wien