Es war in Sankt Pölten im Dezember 1952. Erster nasser Schnee war gefallen, auf dem Fahrweg zur Schule zwischen der Mariazeller-Bahn und einer Kaserne, hinter deren Stacheldrahtzaun sowjetische Soldaten an Lastwagen und Panzern hantieren, krachte das Eis in den Schlaglöchern.

Ich hatte das erste Lehrjahr als Buchdrucker beendet, der Berufsschulkurs stand vor dem Abschluss und ich freute mich auf die Weihnachtsferien. In den Bergen hoffte ich, die berühmte Skiläuferin zu treffen, die bei den letzten Olympischen Spielen eine Medaille gewonnen hatte. Das Sammeln von Autogrammen war mein neuestes Hobby. Ein berühmter Bergsteiger hatte sich schon in meinem Tourenbuch "verewigt", auch ein Weltmeister im Eiskunstlauf.

Jetzt aber bot sich eine unerwartete Gelegenheit, als der Klassenvorstand verlautete, wir gingen geschlossen zum Bahnhof, um den ersten elektrisch betriebenen Zug von Wien mit dem Bundespräsidenten als Fahrgast zu begrüßen. Auf dem Bahnsteig hatten sich zahlreiche Schulklassen versammelt, neben Würdenträgern aus Stadt und Land. Wir standen richtig, also dort, wo der Waggon mit dem hohen Ehrengast halten sollte. Darauf war ich vorbereitet, mit einem Kärtchen aus weißem Karton in der Tasche. Tatsächlich hielt der Wagen mit dem Staatsoberhaupt nicht weit von mir entfernt. Das Publikum winkte, Schüler schwenkten Fähnchen, der Bundespräsident ließ das Fenster herunter und lächelte.

Das war mein Zeichen. Ich bückte mich, schlüpfte unter den Armen zweier Kette bildender Gendarmen hindurch und lief auf das offene Fenster zu. Ein Gendarm versuchte mich einzuholen, aber da hatte der alte Herr mit dem weißen Bart mich schon im Blick, mein Verfolger wurde stutzig und hielt an. "Herr Bundespräsident", sagte ich, "darf ich Sie um ein Autogramm bitten?", und reichte ihm das Kärtchen zum Fenster hinauf. Der alte Herr nahm es mir aus der Hand, mit der anderen holte er seine Brille hervor und setzte sie auf, danach die Füllfeder aus der Rocktasche und schrieb seinen Namen auf das Kärtchen: Körner. Im Begriff, mir dieses zu reichen, besann er sich, nahm noch einmal die Kappe von der Füllfeder und fügte schräg unter seinen Namen das Datum hinzu: 19/12 52.

Ich bedankte mich und ging langsam zurück zu meiner Klasse, von allen Seiten bestaunt als einer, dem etwas Außergewöhnliches gelungen war. Die Gendarmen machten Platz, der Lehrer platzte fast vor Stolz, konnte die Karte in meiner Hand nicht ehrfürchtig genug betrachten, während der Zug sich wieder in Bewegung setzte, das Winken und Fähnchenschwenken noch einmal an Heftigkeit zunahm, bis der Herr mit dem weißen Kinnbart sich vom Fenster zurückzog und sein kurzer Aufenthalt in Sankt Pölten Geschichte war.

Ich blieb mit gemischten Gefühlen zurück. Wen sollte ich nach dem Bundespräsidenten noch um ein Autogramm ersuchen? Ich würde mir ein neues Hobby suchen müssen.

Peter Steiner (Jg. 1937),

Schriftsteller

2500 Baden bei Wien