Es war im Winter 1932/33 in Wien. Ich war acht Jahre alt. Vater war arbeitslos. Er hatte über 20 Jahre lang, mit Unterbrechung durch Militärdienst und Kriegsgefangenschaft, als Oberkellner im "Stefanskeller" gearbeitet. Das Restaurant wurde wegen schlechten Geschäftsgangs geschlossen.

Mutter half gelegentlich in einer Wäscherei aus. Vor Weihnachten gab es eine Aktion: "Ein Festtagsmahl für ein armes Kind." Meine Eltern bekamen die Adresse einer wohlhabenden Familie beim Rathaus. Dort sollte ich mich am Weihnachtstag einfinden. Mutter brachte mich hin.

Ein Mädchen mit Häubchen nahm mich in Empfang, führte mich in die Küche, wo eine ältere Frau am Herd hantierte. Auf dem Küchenstockerl nahm ich Platz. Dann wurden volle Schüsseln vom Mädchen in einen Raum getragen. Am Küchentisch wurden Besteck und Teller für mich bereitgestellt. Auf dem Hocker konnte ich mein "Festtagsmahl" einnehmen: eine warme Suppe, ein feiner Braten mit Beilagen und ein schön verziertes Tortenstück.

Ich ließ mir alles schmecken. Dann öffnete sich die Tür zu einem großen Esszimmer mit vornehmen Möbeln, erleuchtet von Kerzen eines bis zur Decke reichenden Christbaumes. Die Gesellschaft bestand aus festlich gekleideten Damen und Herren. Eine alte Dame rief mich zu sich, fragte mich nach Namen, Alter und Familie. Dann erkundigte sie sich, wie wir am Heiligen Abend gefeiert hatten, ob wir einen Christbaum hätten und ob meine Schwester und ich Geschenke erhalten hätten. Ich zählte meine Geschenke auf: ein Spiel, ein Buch, ein Pullover, den Mutter gestrickt hatte, ein blauer Faltenrock, den meine Tante genäht hatte. Da sprang sie auf und rief laut: "Das ist kein armes Kind, das brauchen wir nicht zu beschenken!" In der Runde herrschte eisiges Schweigen. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Das Dienstmädchen führte mich hinaus, half mir in den Mantel. Die Köchin gab mir ein Sackerl gefüllt mit Backwaren.

Ehe ich mich gefasst hatte, stand ich vor dem Haus, wo Mutter wartete. Am Heimweg weinte ich und war geschockt. Vor Scham brachte ich kein Wort heraus und glaubte, mich schlecht benommen zu haben. Daheim schilderte ich den Vorfall; Mutter tröstete mich, Vater sagte: "Nein, du hast keine Schuld; es gibt Leute, die nur in ihrer egoistischen Welt leben und keine Ahnung haben, was sich in ihrer Umgebung abspielt." Ich wurde ruhiger, konnte aber lange dieses Erlebnis nicht vergessen.

Gertrude Unmuth (Jg. 1924),

Lehrerin in Pension,

1190 Wien