Unsere Mutter weckte uns am Ostersonntag 1945. Sie war schon angezogen und blickte ernst, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Da Ostersonntag war, dachte ich, dass schon der Osterhase kommt, und war hellwach.
Wir müssen weg, lautete der knappe Satz meiner Mutter. Rasch zog sie meine Schwester und meinen Bruder an. Ich konnte mich schon lange alleine anziehen.
Wir gingen zum Auto und das hatte keine Sitze mehr, vielmehr waren die ganzen Sitze jetzt voller Wäsche und Kleidungsstücke. Ich lief nochmals ins Haus zurück und holte schnell noch meinen Schutzengel, denn den durfte ich mitnehmen, alles andere blieb zurück in Wien.
Über kaputte Straßen ging es ganz langsam, bis wir in Amstetten waren. Da mussten wir alle aussteigen, denn die Behelfsbrücken hätten vielleicht nicht gehalten. Daher war es sicherer, wenn nur Vater das Fahrzeug lenkte.
Im ganzen Wirbel ging meine Schwester verloren, die fanden wir aber dann wieder. Sie hatte wohl einen Schutzengel und stand wie eine kleine geschnitzte Figur auf einem Erdhügel.
Die Fahrt von 450 Kilometern dauerte drei Tage. In Tirol angekommen, waren wir im Ort offensichtlich nicht willkommen, obwohl Vaters Eltern dort ein Haus hatten. Zwei Monate danach wurde mein kleiner Bruder von einem betrunkenen Sieger überfahren und getötet. Da verließen uns wohl alle Schutzengel.
Kein Trost durch die Kirche
Mein Bruder durfte im Heiligen Land Tirol nicht so ohne Weiteres in geweihter Erde begraben werden. Messe gab es jedenfalls nicht. Wir waren nämlich Protestanten.
Meine Mutter war von da an gebrochen. Sie war nicht mehr so bei uns wie früher. Für mich schien sie in einer anderen Welt zu sein. Vielleicht half ihr dabei ein Schutzengel. Da ich in Tirol auch in die Schule gehen musste, wurde meinen Eltern mitgeteilt, dass ich als Protestantin nicht zum Besuch der Schule im Ort berechtigt wäre.
So wurde mir der Teufel von der Stirne gewaschen und aus den Ohren geblasen: Katholisch getauft, sagte man dazu. Angeblich bekam ich da auch einen Schutzengel. Den brauchte man nämlich im "Heiligen Land Tirol" wirklich an allen Ecken.
Marina Kneissl (Jg. 1939),
staatl. geprüfter Fremdenführer,
1130 Wien