Es hat geregnet. Nebel liegt über der Hauptstadt. Kinder gehen zur Schule. Doch zeugen rot-weiß-rote Fahnen an Gebäuden von der Besonderheit des nächsten Tages. Kaum einer nimmt sie wahr. Man hat sich an die Freiheit gewöhnt wie an die Menschen, mit oder neben denen man lebt. Welcher Tag morgen ist? Die meisten Menschen würden diese Frage mit gleichgültigem Achselzucken beantworten.
Nur wenige wissen, dass Österreich an diesem Tag seine immerwährende Neutralität erklärte. Die Schulkinder freuen sich. Die letzte Stunde ist Feierstunde. Das bedeutet weniger Mathematik, Latein oder Turnen. Die Kleineren haben sich einiges einfallen lassen. Sie tragen selbstgemachte Fähnchen, wiederholen rasch noch kleine Gedichte oder Referate, die sie vorbereitet hatten. Die Bedeutung des 26. Oktober können sie nicht erfassen. Sie wurden ja bereits in Freiheit geboren. An den Zinshäusern der Stadt mit den billigen Zimmer-Küche-Wohnungen sieht man keine Fahnen.
Doch nein, hier im ersten Stock eines alten Hauses erscheint ein uraltes weißhaariges Mütterchen am Fenster. Mit zitternden Händen befestigt sie mit zwei Reißnägeln am Fensterkreuz ein rotes Fetzchen, auf das sie mühselig einen weißen Mittelstreifen genäht hat. Sorgfältig zupft sie die Enden zurecht, tritt ein Stück zurück und faltet die Hände. Eine halbe Minute steht sie verloren da, den Blick auf das Tuch gerichtet. Ihr ganzes Leben scheint vor ihren müden Augen vorbeizuziehen. Eine uralte Frau, ein Stück Tuch in Rot-Weiß-Rot, niemand beachtet es. Für mich, die ich diesen Vorgang rein zufällig beobachten konnte, wurde die Frau mit ihrem gebastelten Fähnchen zu einem Symbol, das mir in der Fremde oft Trost und Freiheit bedeutete.
Dr. Christel Hirn (Jg. 1942),
ehem. AHS-Lehrerin,
1230 Wien