Es war im April 1952. Ich ging in die zweite Klasse der Volksschule. Am Heimweg in Wien-Hietzing hörte ich öfters kräftige Männerstimmen, die seltsame, schwermütige Lieder sangen. Die Männer saßen in einem grauen Lastwagen, der manchmal durch die Hetzendorfer Straße fuhr. Mich faszinierten diese Lieder und ihre Melodien sehr.

Daheim fragte ich meine Mutter, was das für Leute mit den schönen Liedern sind. "Oh Gott", sagte sie irritiert, "fahren diese Russen jetzt auch schon durch unseren Bezirk?" Und sie fügte hinzu, dass ihr diese Lieder überhaupt nicht gefallen. Das konnte ich gar nicht begreifen.

Erst etwas später verstand ich ihre ablehnende Haltung. Meine Mutter und meine zwei älteren Geschwister waren im letzten Kriegsjahr bei einer verwandten Bäuerin in Fahndorf (westliches Weinviertel) untergebracht, wo sich alle jüngeren Frauen vor den herannahenden russischen Soldaten im Heu oder hinter getarnten Türen versteckten. Einige wurden trotzdem gefunden und manche von ihnen vergewaltigt.

Ich kam dort am Tag des Waffenstillstands zur Welt. Als mir meine Mutter das erste Mal davon erzählte, waren wir beide erschüttert und heulten erst einmal ein paar Minuten. Am Vortag war der Nazi-Bürgermeister durchs Dorf gelaufen und forderte mit der Pistole in der Hand alle auf, sofort nach Westen zu flüchten. "Nein, ich bringe mein Kind nicht im Straßengraben zur Welt!", entgegnete sie ihm, worauf er mit dem Erschießen drohte. Abgedrückt hat er dann doch nicht.

Das "meistgewickelte" Baby

Die mühsam herbeigerufene, uralte Hebamme kam um Stunden zu spät und hatte furchtbar zittrige Hände. Mutti dachte, ich wäre bei der Geburt gestorben, weil ich ganz still unter der Decke lag. "Was der für große Augen macht", rief die Hebamme, und da erst wurde meiner Mutter klar, dass alles gut gegangen war.

Die Taufe wurde schon wenige Tage später angesetzt, "bevor noch die Russen das Dorf besetzen". Es muss eine Art Weltuntergangs-Stimmung gewesen sein. Denn die Kirche war so voll wie sonst nie.

In den nächsten Wochen war es natürlich nichts mit dem Verstecken - aber mit viel Angst, wenn russische Soldaten ans Hoftor klopften. Einmal wurde ich gerade gewickelt - und da zeigte sich, wie kinderlieb diese rauen, oft mongolisch wirkenden Männer waren. Mutter erzähle schmunzelnd, dass sie mich dann jedes Mal "auspackte", wenn Soldaten Einlass begehrten. Ich sei wohl jenes Kind in Niederösterreich, dass am öftesten gewickelt wurde. Sieben Jahre später, am 26. April 1952, wurde die in Sankt Florian neu gegossene Pummerin in einem richtiggehenden Freuden- und Triumphzug nach Wien gebracht. Vati und wir Kinder hatten trotz der Menschenmassen einen Platz beim Schloss Schönbrunn gefunden, wo man den Sattelschlepper sehen konnte, wie er im Fußgängertempo unter Freudenrufen vorbeifuhr.

Die Glocke selbst kam mir auf dem langen Tieflader eigentlich recht klein vor. Weil es mein Geburtstag war, bekam ich einen kleinen Alu-Guss der Pummerin geschenkt. Bei der letzten Übersiedlung fand ich sie in einem Schachterl und ich muss gestehen, da kamen mir noch einmal ein paar Freudentränen über Österreichs Wiedererstehen.

Dr. Gottfried Gerstbach (Jg. 1945),

Techniker, Univ.-Prof. i.R.,

1130 Wien