Es ereignete sich in den frühen 50er Jahren, als Österreich noch in vier Besatzungszonen unterteilt war. Deren Grenzen durften nur gegen Vorweis der Identitätskarte (im Volksmund "I-Karte" genannt) an den Demarkationslinien überschritten werden. Jene an der Enns, zwischen dem russisch besetzten Niederösterreich und dem amerikanischen Oberösterreich, war wohl die gefürchtetste gewesen. War man damals gegenüber den Soldaten der Siegermächte ohnehin nahezu rechtlos, kam auf der Brücke über die Enns erschwerend hinzu, dass man sich mit Russen praktisch nicht verständigen konnte. Kein Wunder, dass mein Vater, als wir auf einer Reise zum Attersee waren, knapp vor der gefürchteten Demarkationslinie schon sehr angespannt war. Man konnte ja nie wissen, was einen dort erwartete. Er trug mir daher auf, während der Kontrollen kein Wort zu reden und alles zu tun, was er mir auftragen würde.

Wenig später stoppte er unseren klapprigen "Steyr" vor dem mächtigen Schranken, hinter welchem grimmig blickende Soldaten mit Gewehren standen, und kurbelte das Fenster herunter. Ein russischer Offizier überprüfte zunächst, ob außer Vater und mir niemand im Auto war. Dann streckte er wortlos die Hand aus und ließ sich die I-Karte aushändigen, welche er lange und ausführlich studierte. Plötzlich rief er den Soldaten beim Schlagbaum etwas zu, riss die Autotür auf und bedeutete meinem Vater unmissverständlich, auszusteigen.
Dieser war blass und machte - mutig, wie er war - eine fragende Geste, die der Russe ignorierte. Dann wurde mein Vater von zwei Soldaten in ein anderes Auto gesetzt und weggeführt. Ich begann zu weinen, denn ich hatte große Angst, plötzlich allein zu sein. Ein Soldat setzte sich wortlos an Vaters Platz, der Grenzbalken wurde gehoben und er fuhr ruckend und holpernd ein paar Meter hinter den Schlagbaum, wo er stehenblieb, den Autoschlüssel abzog, wieder ausstieg und sich neben das Auto stellte. Es waren Minuten furchtbarer Angst und Verlassenheit, die folgten. Mein Vater abgeführt - wohin? warum? - und ich alleine, umgeben von grimmigen Russen. Nach einer Ewigkeit, während welcher ich nicht imstande war, irgendetwas anderes als meine Angst wahrzunehmen, erschien zu meiner unermesslichen Erleichterung das Auto mit meinem Vater wieder.
Überschwänglicher Dank
Aber wie anders war nun die Atmosphäre: Mein Vater lachte, die Soldaten schlugen ihm freundlich auf die Schulter, man drückte ihm die Hand und der Offizier küsste ihn auf die Wange. Man öffnete ihm sogar die Wagentüre und übergab ihm die Autoschlüssel. Ehe er den Steyr wieder starten konnte, wurde noch eine Einkaufstasche durch das Fenster gereicht, die mein Vater, nach mehrmaligem "Danke schön!", sich umständlich verbiegend, auf dem Rücksitz abstellte.
Als wir in Richtung Attersee weiterfuhren, blieb mein Vater nicht weit hinter dem amerikanischen Kontrollpunkt am Straßenrand stehen und erzählte mir, was sich ereignet hatte: Der Russe hatte in der I-Karte gelesen, dass Vater Arzt war. Ein solcher wurde zufällig gebraucht. Also musste er aussteigen, wurde zu einem grenznahen Gehöft gefahren, wo ein Russe - offenbar ein Offizier -, im Bett lag und über Schmerzen klagte, die, wie er bald feststellen konnte, offenbar von einem entzündeten Blinddarm herrührten.
Mittels Zeichensprache und entsprechender Gestik konnte mein Vater den Kranken beruhigen und den umgehenden Transport in ein Lazarett veranlassen. Die Dankbarkeit der Russen war anschließend überschwänglich: In der Tasche, die ihm nachgereicht wurde, befanden sich Lebensmittel, die damals für Normalösterreicher nur schwer zu bekommen waren. Fleisch, Zucker, Butter, Eier und Kaviardosen. - Ein Lohn der Angst, gewissermaßen!
Dkfm. Michael Stradal (Jg. 1942) Pensionist
2344 Maria Enzersdorf