Jedes Mal, wenn ich Gurken sehe, rieche, esse, denke ich an Sascha, einen großen, schlanken Sowjetsoldaten in unserem Haus, der zusammen mit seinen Kameraden bei uns einquartiert war, nach dem "Zusammenbruch", wie die Leute das Kriegsende nannten, als endlich wieder Frieden, "der Spuk mit der Nazizeit" vorbei und das glorreiche "Tausendjährige Reich" zerbrochen war. Und Europa in Schutt und Asche lag.

Wenn ich also im Zusammenhang mit Gurken an den Sascha damals in meinem Elternhaus denke, im Jahr 1945, fällt mir dabei auch unsere Köchin Fanni ein, meine "Babuschka", wie der Sascha sie nannte, und wie diese mit dem Sascha in einer höchst eigenartigen und zugleich wunderbaren Weise verbunden war. Ich sehe dann immer dieselbe Szene vor mir: Fanni steht in der Küche und schält Gurken; der Raum duftet intensiv nach dem Gemüse. Da steht schon der Sascha mitten in der Küche und bettelt Fanni an: "Babuschka, gib mir Gurke!" Darauf Fanni: "Wie sagt man, Sascha, wie sagt man, wenn man etwas haben will?" Und sie schaut Sascha streng und doch zugleich milde an. Und der große Sascha sagt nur ganz kleinlaut: "Bitte, Babuschka, gib Sascha Gurke!" Worauf Fanni entgegnet: "Na also, es geht doch!" Dann schneidet sie mit dem Küchenmesser eine etwas kleinere, geschälte Gurke entzwei, viertelt und entkernt sie, stellt das Salzschafferl vor den Sascha und überreicht ihm Stücke, für Sascha extra so gemacht, weil er die Gurken so iwwt und nur so hergerichtet mag. Und der Sascha greift freudig nach der Gurke, taucht das Ende tief ins Salzfassel ein und beißt ab, bis alles aufgegessen ist. Dann greift er nach dem nächsten Stück und verzehrt es auf dieselbe Art und Weise.

Dann geschieht etwas höchst Eigenartiges. Sascha kniet vor Fanni nieder, sie hilft ihm sehr erschrocken aber resolut sofort wieder auf. Der Sascha will sich bei der Fanni für die Gurken bedanken, sagt: "Danke, Babuschka, Gurken sehr gutt, sehr gutt!" Und die Fanni entgegnet: "Ist schon recht. - Aber bedanken musst Du Dich jetzt beim Lieben Gott, beim Herrn Jesus und bei der Gottesmutter Maria; denn die schenken uns die Gurken, sowie überhaupt alles, was in der Erde wächst. Verstehst Du, Sascha!" Und der Sascha nickt.

Dann nimmt die Fanni den Sascha an der Hand, führt ihn vor das Kreuz, das an der schmalen Wand zwischen den beiden Fenstern in unserer Küche hängt und unter dem ein kleines gerahmtes Bild mit der Schwarzen Madonna von Tschenstochau hängt. Sie stellt sich mit Sascha davor, macht das Kreuzzeichen, stößt den verdutzt und verlegen neben ihr stehenden Sascha in die Seite und bedeutet ihm, er soll sich auch ebenso bekreuzigen wie sie.

Sascha schaut sich um, wirft einen prüfenden Blick durch die Küchenglastür hinaus, ob ja kein Kollege von ihm in der Nähe ist, vor allem nicht der Politkommissar-Offizier. Dann macht Sascha wirklich ein Kreuzzeichen, etwas anders als wir, nämlich von rechts nach links. Er wiederholt anscheinend in seiner Sprache, auf Russisch, murmelnd, was die Fanni, seine "Babuschka" ihm vorgesagt hat, nämlich: "Danke lieber Gott und liebe Gottesmutter für die Gurken und für alles Leben überhaupt!" Da wischt sich der sonst oft so böse Sascha, der ganz unberechenbar wird, wenn er zu viel Wodka getrunken hat, plötzlich eine Träne aus den Augen; und er will der Fanni die Hand küssen. Aber sie entzieht sie ihm sogleich und sagt nur: "Jetzt bist gonz narrisch woan, Bua!" Dabei lächelt sie so wunderbar mütterlich.

Dieses Lächeln treibt mir fast jedes Mal, auch noch nach nun mehr als siebzig Jahren, die Tränen in meine Augen. Ich seufze auf. Meine Frau fragt: "Was ist denn los?" Und ich sage: "Nein, eh nichts! Ich war nur momentan ganz woanders, in einer anderen Zeit." Und ich esse weiter; meine Gurken vor mir, auf dem Teller; und ich lächle.

Prof. Peter Paul Wiplinger,

Schriftsteller (Jg. 1939),

1030 Wien