Wer in Wien sagt, jemand sei mit dem Einundsiebziger gefahren, meint mehr als eine Reise mit der Straßenbahnlinie Nummer 71 zum Zentralfriedhof. Obwohl der Friedhofsbesuch tatsächlich eine Wiener Leidenschaft ist, steht hinter der Fahrt mit dem Einundsiebziger etwas anderes. Als 1918 die Spanische Grippe in Wien wütete, gab es nicht mehr genug Pferdeleichenwägen. Daher übernahm die Tramway den Transport - dezenterweise nur nachts. Drei Sargtransportwägen waren auf der Einundsiebziger-Strecke in Verwendung. An den Waggonaußenwänden baumelten die Kränze auf Haken. "Sollten Sie also in Wien erfahren, ,dea is mi n Anasiebzga gfoan‘ oder ‚dea hot si mi n Anasiebzga hamdraht‘, kann das bedeuten, dass die Person verstorben ist", schreibt Edwin Baumgartner, Redakteur der "Wiener Zeitung" in seinem Buch "Schmäh - Die Wiener Antwort auf die Dummheit der Welt".

Die Spanische Grippe war eine der verheerendsten Epidemien der Geschichte. In absoluten Zahlen ist sie mit dem Ausbruch der Pest von 1348 vergleichbar, der mehr als ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung zum Opfer fiel. Das aggressive Virus befiel die Welt in drei Wellen - im Frühjahr 1918, im Herbst 1918 und noch einmal 1919 - und trug den Tod direkt in den Alltag. Die Spanische Grippe forderte bis zu 100 Millionen Menschenleben. In Wien traf sie auf eine ausgehungerte, kriegsgeschwächte Bevölkerung und erreichte im Oktober 1918 ihren Höhepunkt. Mindestens 6500 Menschen dürften ihr zum Opfer gefallen sein- vermutlich waren es jedoch mehr, da viele Todesfälle fälschlicherweise einer Lungenentzündung zugeordnet wurden. Die verheerende Infektionswelle jährt sich heuer zum 100. Mal.

Wildvögel als Reservoir

Die Spanische Grippe mutierte von Wildvögeln. Über den ersten erkrankten Menschen ist nichts bekannt. Die ersten Nachrichten über die Seuche erreichten die Welt aus Spanien, das als neutrales Land eine liberalere Zensur als die Kriegsparteien pflegte. Unter den Erkrankten war auch der spanische König Alfons XIII.

Wissenschafter gehen davon aus, dass die Pandemie beim Menschen in einem Ort namens Haskell County im US-Bundesstaat Kansas ihren Ausgang nahm. Anfang 1918 behandelte der Landarzt Loring Miner dort Patienten, die an ungewöhnlich heftigen Grippesymptomen litten. Den Krankheitsverlauf schilderte er als außergewöhnlich rasch voranschreitend und mitunter tödlich. Miner war so beunruhigt, dass er das U.S. Public Health Service um Unterstützung bat. Der Bitte wurde nicht nachgekommen, die Grippeform mit ungewöhnlich heftigem Verlauf jedoch im Frühjahr 1918 im "Public Health Report" veröffentlicht. Dank des Berichts konnten Medizinhistoriker den Ansteckungsverlauf rekonstruieren.