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Die zerstörerische Kraft der Viren

Von Eva Stanzl und Alexandra Grass

Die Spanische Grippe war einer der aggressivsten Erreger der Geschichte - nun droht eine neue Pandemie.


Wer in Wien sagt, jemand sei mit dem Einundsiebziger gefahren, meint mehr als eine Reise mit der Straßenbahnlinie Nummer 71 zum Zentralfriedhof. Obwohl der Friedhofsbesuch tatsächlich eine Wiener Leidenschaft ist, steht hinter der Fahrt mit dem Einundsiebziger etwas anderes. Als 1918 die Spanische Grippe in Wien wütete, gab es nicht mehr genug Pferdeleichenwägen. Daher übernahm die Tramway den Transport - dezenterweise nur nachts. Drei Sargtransportwägen waren auf der Einundsiebziger-Strecke in Verwendung. An den Waggonaußenwänden baumelten die Kränze auf Haken. "Sollten Sie also in Wien erfahren, ,dea is mi n Anasiebzga gfoan‘ oder ‚dea hot si mi n Anasiebzga hamdraht‘, kann das bedeuten, dass die Person verstorben ist", schreibt Edwin Baumgartner, Redakteur der "Wiener Zeitung" in seinem Buch "Schmäh - Die Wiener Antwort auf die Dummheit der Welt".

Die Spanische Grippe war eine der verheerendsten Epidemien der Geschichte. In absoluten Zahlen ist sie mit dem Ausbruch der Pest von 1348 vergleichbar, der mehr als ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung zum Opfer fiel. Das aggressive Virus befiel die Welt in drei Wellen - im Frühjahr 1918, im Herbst 1918 und noch einmal 1919 - und trug den Tod direkt in den Alltag. Die Spanische Grippe forderte bis zu 100 Millionen Menschenleben. In Wien traf sie auf eine ausgehungerte, kriegsgeschwächte Bevölkerung und erreichte im Oktober 1918 ihren Höhepunkt. Mindestens 6500 Menschen dürften ihr zum Opfer gefallen sein- vermutlich waren es jedoch mehr, da viele Todesfälle fälschlicherweise einer Lungenentzündung zugeordnet wurden. Die verheerende Infektionswelle jährt sich heuer zum 100. Mal.

Wildvögel als Reservoir

Die Spanische Grippe mutierte von Wildvögeln. Über den ersten erkrankten Menschen ist nichts bekannt. Die ersten Nachrichten über die Seuche erreichten die Welt aus Spanien, das als neutrales Land eine liberalere Zensur als die Kriegsparteien pflegte. Unter den Erkrankten war auch der spanische König Alfons XIII.

Wissenschafter gehen davon aus, dass die Pandemie beim Menschen in einem Ort namens Haskell County im US-Bundesstaat Kansas ihren Ausgang nahm. Anfang 1918 behandelte der Landarzt Loring Miner dort Patienten, die an ungewöhnlich heftigen Grippesymptomen litten. Den Krankheitsverlauf schilderte er als außergewöhnlich rasch voranschreitend und mitunter tödlich. Miner war so beunruhigt, dass er das U.S. Public Health Service um Unterstützung bat. Der Bitte wurde nicht nachgekommen, die Grippeform mit ungewöhnlich heftigem Verlauf jedoch im Frühjahr 1918 im "Public Health Report" veröffentlicht. Dank des Berichts konnten Medizinhistoriker den Ansteckungsverlauf rekonstruieren.

In US-amerikanischen Militärausbildungslagern erkrankten die Männer. Von dort aus ging die Influenza auf die Zivilbevölkerung über. Der australische Medizin-Nobelpreisträger Frank Macfarlane Burnet entdeckte in den 1970er Jahren, dass die Spanische Grippe mit US-Truppentransportern nach Europa gelangte. Von Anfang April 1918 sind Fälle in der französischen Hafenstadt Brest belegt, Ende April hatte die Grippewelle Paris erreicht. Im Mai 1918 meldete die britische Marine 10.000 Krankheitsfälle und konnte nicht auslaufen. Im Juni wurden aus Indien, China, Neuseeland und den Philippinen Fälle gemeldet. Da es damals noch keine Grippe-Impfungen gab, konnte sich die Spanische Grippe ungehindert zwei Mal um die Welt verbreiten.

Der Krankheitsverlauf war heftig und kurz und ging mit starkem Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen einher. Den meisten Patienten ging es nach wenigen Tagen wieder besser. Zu Todesfällen kam es bei Komplikationen, etwa bei Lungenentzündung oder bakteriellen Superinfektionen. Hauptsächlich 20- bis 35-jährige Männer erkrankten.

Berühmte Opfer

"Der Stamm von 1918 wurde deswegen so virulent, weil er sowohl an den Menschen angepasst als ihm auch fremd war. Genetisch ähnelte er der Vogelgrippe, doch wie die gewöhnliche Grippe verbreitete er sich von Mensch zu Mensch", erklärt die britische Wissenschaftshistorikerin Laura Spinney, die die Pandemie in ihrem Buch "Die Welt im Fieber" analysiert. "Hinzu kamen am Ende des Ersten Weltkriegs Hunger, der die Mutation von Viren befördern kann, eine zusammengebrochene Infrastruktur und die Verhältnisse in den Schützengräben."

Eines der ersten Opfer könnte der am 6. Februar 1918 verstorbene Maler Gustav Klimt gewesen sein. Nach einem Schlaganfall kam er ins Krankenhaus, wo er sich mit einem unbekannten grippösen Lungeninfekt ansteckte. Belegt ist die Spanische Grippe bei seinem Kollegen Egon Schiele. In seinem Gemälde "Die Familie" porträtierte er seine Frau Edith und einen Buben. Die Familie sollte so nie existieren. Edith verstarb im Oktober 1918, als sie mit dem ersten Kind im sechsten Monat schwanger war, Schiele drei Tage später. Auch Sigmund Freud verlor seine Tochter Sophie an die Spanische Grippe. Einen Tod, den er später als einen "sinnlosen, brutalen Akt des Schicksals" bezeichnen sollte.

Wer am Ende des Jahres 1919 die Spanische Grippe überlebt hatte, war gegen sie immun geworden. Die Krankheit verschwand fast so plötzlich, wie sie gekommen war. Der Virenstamm vom Subtyp H1N1 existiert allerdings noch immer. Durch die Spanische Grippe konnte sich das Wildvogel-Virus nämlich im Menschen und später in Schweinen etablieren. Aus diesem Grund warnen Experten, dass eine Pandemie vom selben Ausmaß jederzeit wieder auftreten könnte. Und die Menschheit ist schlecht vorbereitet.

"Es ist nicht die Frage, ob eine nächste Pandemie kommt, sondern wann", warnt die Virologin Monika Redlberger-Fritz von der Medizinischen Universität Wien. Auf welche Art und Weise und in welchem Ausmaß sie sich präsentieren wird, sei nicht vorhersehbar. An universellen Impfstoffen, die gegen alle bekannten Grippestämme wirken, wird daher mit Hochdruck geforscht. Nur wenn ein solcher gefunden wird, kann eine neue Katastrophe wie 1918 verhindert werden. Gegen ungeahnte Mutationen können aber auch sie wenig ausrichten.

Vor allem das aggressive Virus des Typs A steht im Fokus der Forschung. Auf sein Konto gehen nicht nur die Spanische Grippe mit ihrem Subtyp H1N1, sondern auch die Asiatische Grippe aus 1957 (H2N2), die Hongkong-Grippe von 1968 (H3N2), die Russische Grippe von 1977 (ebenfalls H1N1) und die Englische Grippe (H1N2) zur Jahrtausendwende. Auch die Schweinegrippe vom Subtyp H1N1 gehört zur Familie. Sie präsentierte sich 2009 als Typ-A-Influenza und verursachte weltweit eine halbe Million Todesfälle.

Die Viren unterscheiden sich in der Zusammensetzung an ihren Oberflächenproteinen H (Hämagglutinin) und N (Neuraminidase). Heute sind 18 verschiedene H-Proteine und 11 verschiedene N-Proteine in der Tierwelt bekannt, die sich neu vermischen könnten, erklärt Redlberger-Fritz. Neue Zusammensetzungen des Influenza-A-Stammes, die vom Tier auf den Menschen überspringen, könnten uns gefährlich werden.

Neue Gefahr Klimawandel

Demografischer Wandel, Antibiotika-Resistenzen und der Klimawandel könnten die Krankheitsbekämpfung erschweren, sodass bei einer nächsten Pandemie sogar 150 Millionen Menschen sterben könnten, warnt Infektiologin Carolien van de Sandt von der Universität Melbourne. "Wir stehen vor den Herausforderungen einer alternden Bevölkerung, immer mehr Menschen mit Grunderkrankungen wie Diabetes und veränderten Vogel-Flugrouten durch den Klimawandel", sagt sie. Für die jährliche Grippewelle, die im Februar ihren Höhepunkt erreicht, scheint Österreich mit Kombinationsimpfstoffen gut gerüstet zu sein, betont Redlberger-Fritz. Sollte sich das Virus jedoch im Lauf der Saison genetisch verändern, könnten die Entwicklungen einen unvorhersehbaren Verlauf nehmen.

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