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Kein Fleisch, aber Flecktyphusgefahr

Von Andrea Reisner

Ein Blick auf den Sekundenzeiger der Geschichte: Was die "Wiener Zeitung" im November 1918 berichtete.


Wenn Geschichte geschrieben wird, scheint die Welt einen Moment lang anzuhalten. So auch am 12. November 1918. Die Menschen strömen vors Parlament, die Straßenbahn steht still. Doch das Leben geht weiter. Werfen wir einen Blick auf den Sekundenzeiger der Geschichte: Was berichtete die "Wiener Zeitung" in diesen Herbsttagen? Mit der auf den Seiten I und II dieser Jubiläumsnummer nachgedruckten Extra-Ausgabe machte sie Weltgeschichte.

Der Umbruch, der mit dem Ende der Habsburgerherrschaft und der Ausrufung der Republik stattfand, ist Leserinnen und Lesern sofort ersichtlich: Am 12. November 1918 erscheint die altehrwürdige "Wiener Zeitung" das letzte Mal mit dem kaiserlichen Adler auf dem Kopf des Blattes. Am nächsten Tag prangt der Titel ohne imperialen Schmuck etwas klobig auf der ersten Seite. Aus der kaiserlichen "Wiener Zeitung" war das Blatt der Republik geworden. In der Redaktion in der Wiener Bäckerstraße war man sich der Bedeutung des Umsturzes bewusst. Und doch, so schilderte es der spätere Chefredakteur Rudolf Holzer im Nachhinein, gab es "auch weiterhin nur die eine Aufgabe: dem Staate zu dienen als sein objektives Instrument."

Was die Leserinnen und Leser des Blattes in diesen Tagen wohl am meisten interessierte, war die Sorge um die Ernährung. Ein kurzer Bericht mit der kargen Überschrift "Die Fleischversorgung" informierte in der Ausgabe vom 12. November: "Für die Woche vom 14. bis 20. d. M. (des Monats, Anm.) stehen nur verhältnismäßig geringe Fleischmengen zur Verfügung. Die Rindfleischausgabe erfolgt in dieser Woche nur an die Spitäler und Versorgungshäuser, die Kriegs- und Gemeinschaftsküchen sowie an die Bahnbediensteten."

Fleisch gibt es in anderen Wochen nur mit Bezugsschein. Doch auch das oft lediglich auf dem Papier. "Die Haushaltungen, die kein Fleisch zugewiesen erhalten, werden als Ersatz im Laufe der nächsten Tage einmalig ein Achtelkilogramm Mehl" bekommen. Frauen, die nicht wussten, wie sie allein ihre hungernden Kinder durch den Winter bringen sollten, wird das bestenfalls ein müdes Lächeln gekostet haben.

Etwas weiter unten in dieser Spalte wird darüber informiert, dass "der Ausschank von Alkohol für den 12. und 13. November ausnahmslos verboten" ist. Dass im Inseratenteil der "WZ" ausgerechnet am 13. November "die Versteigerung von 6000 Flaschen Kognak" im Dorotheum angekündigt wird, mag das Publikum erheitert haben.

Bleiben wir im Anzeigenteil: Am 12. November wirbt eine "Reparaturanstalt für Herrenkleider" am Wiener Kohlmarkt 3 - passend zur Zeitenwende - mit der "Spezialität Wenden". Ob man dort alte k.u.k. Uniformen in republikstaugliche Zivilkleidung umschneiderte?

Das frisch geflickte Gewand konnte man sodann ins Theater ausführen. Vielleicht würde die Unterhaltung ein wenig vom Hunger ablenken. Im "K.k. Hof-Burgtheater" war laut dem in der "Wiener Zeitung" gedruckten Programm am 12. November das Stück "Ein idealer Gatte" angesetzt. Im "K.k. Hof-Operntheater" gab man "Salome". Weiters standen Darbietungen mit den Titeln "Die Kinokönigin", "Das Dreimäderlhaus" oder "Das Weib und der Hampelmann" zur Auswahl.

Verwirrung herrschte offensichtlich um die korrekte Bezeichnung einzelner Häuser. So hieß die große Bühne am Ring auch in den ersten Tagen der Republik laut "WZ" noch "K.k. Hof-Burgtheater". Mit 15. November rang man sich zu einem Kompromiss durch, strich das "K.k." und beließ es bei "Hof-Burgtheater". Am "Deutschen Volkstheater" - es konnte seinen Namen einstweilen getrost behalten - wurde am 9. November "Die Stimme", ein Schauspiel von Hermann Bahr, "zum ersten Male gespielt, zu spielen versucht", berichtet die "WZ"-Spätausgabe "Wiener Abendpost" zwei Tage danach. Nobel formulierte der nicht namentlich genannte Kritiker, dass das Stück mit Bomben und Granaten durchgefallen war: "Das der programmgemäßen Erledigung widerstrebende Publikum gab seinem Unwillen leider nur allzu heftigen Ausdruck." Und weiter: "Viele Hörer (. . .) erhoben zischend Einspruch gegen die Zuendeführung des Spieles, das erst nach einer von wüstem Toben erfüllten Unterbrechung zu Ende gebracht werden konnte."

Es ist kaum anzunehmen, dass die zahlreich in die Stadt strömenden Kriegsheimkehrer, zerlumpt und ausgemergelt, wie sie waren, stante pede ins Theater marschierten. Dass wegen der hygienischen Missstände jedenfalls Vorsicht geboten war, versuchte die "Wiener Zeitung" in amtlichem Ton zu vermitteln: "Manche dieser Militärpersonen kommen (...) ungereinigt und mit Ungeziefer behaftet zu ihren Angehörigen und bringen diese in Gefahr, an ansteckenden Krankheiten, vor allem Flecktyphus, zu erkranken." Daher sei es unerlässlich, dass die Männer "bald nach ihrer Ankunft eine gründliche Reinigung ihres Körpers sowie der Kleidung und Wäsche vornehmen".

Ebenso wie die Zweibeiner hatte man die Vierbeiner in Massen für den Krieg abgerichtet. Sie waren nun überflüssig. Via "Wiener Zeitung" versuchte man, die Tiere an den Mann oder die Frau zu bringen: "Die beim Zugshundekader, Wien, 13. Bez., Kleine Breitenseer Kavalleriekaserne, im Stande befindlichen Zughunde werden mit Rücksicht auf die eingetretenen Verhältnisse (. . .) abgegeben. Diese Hunde sind im Zuge durchwegs gut ausgebildet, können aber auch eventuell für Wachzwecke verwendet werden." Die bürokratische Kälte folgender Zeilen lässt nicht nur Tierfreunde erschauern: "Der Verkauf militärischer Pferde ist nur bei solchen Pferden gestattet, welche zweifellos der Schlachtung zugeführt werden müssen. Verkauf noch gebrauchsfähiger Militärpferde ist absolut verboten. Solche Pferde können im Wege der nächsten Pferdeverwertungsstelle oder berittener Ersatzkörper leihweise gegen Revers ausgegeben werden. Pferdeabschub aus pferdeüberfüllten Gegenden nach pferdeleeren ist möglichst zu fördern."

Damit zum Wetter. Die Rubrik "Meteorologische Beobachtungen an der k.k. Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik" meldete für 12. November 1918: trüb, regnerisch, "fast klar" erst am Abend, "Sonnenscheindauer 0,0 Stunden". Die "Kleine Chronik" der "Wiener Abendpost" brachte unter anderem eine Todesmeldung. Kurz vor Ausrufung der Republik starb nicht nur Viktor Adler, den das Blatt gebührend würdigte, sondern auch "der ehemalige Universitätsdozent für Zahnheilkunde Dr. Michael Alfred Scheff, einer der wenigen noch überlebenden Legionäre des Jahres 1848, im Alter von 95 Jahren".

Auf die damals 70 Jahre zurückliegenden Ereignisse verwies auch der an anderer Stelle im Blatt zitierte Aufruf der provisorischen Nationalversammlung: "Was dieses (. . .) schwer geprüfte Volk seit den Tagen von 1848 immer begehrt, was ihm die Mächte des Rückschrittes (. . .) kurzsichtig versagt haben, das ist nun (. . .) glücklich errungen." Dr. Scheff erlebte es leider nicht mehr.