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An einem nasskalten Tage im November

Von Walter Hämmerle

Zum 100. Geburtstag der Republik: Rückblick auf dramatische Tage mit glücklichem Ende.


In Österreich ereignet sich Geschichte bevorzugt in anekdotentauglicher Form. Wir schreiben den Abend des 12. November 1918, ein nasskalter Dienstag. Stunden zuvor waren 150.000 Menschen auf den Beinen, um bei der Ausrufung der Republik dabei zu sein. Die Lage ist chaotisch, die Monarchie liegt in Trümmern, die Stadt ist voll ausgemergelter, hungernder Menschen. Womöglich reicht ein Funke, um die Kräfte der Revolution freizusetzen.

Das wollen die Manager des Übergangs, die Parteien, verhindern, allen voran die Sozialdemokratie. Die Feierlichkeiten vor dem Parlament sind im Detail vorbereitet, nichts soll dem Zufall überlassen sein. Doch dann fordert eine bewaffnete Gruppe um den ehemaligen k.u.k. Leutnant und Journalisten Egon Erwin Kisch die Errichtung einer sozialistischen Republik. Die Szene gerät zum Tumult, die Gruppe will in das Parlament eindringen, doch die sozialdemokratischen Ordnungskräfte halten dagegen. Kisch und Genossen treten den Rückzug an.

Doch noch geben sie ihren Kampf für eine "Räterepublik" nicht auf. Am Abend dringen Kisch und seine Rotgardisten in die Redaktion der "Neuen Freien Presse" ein und erzwingen den Druck einer Sondernummer, welche die Gründung einer sozialistischen Republik verkünden und die Erstürmung der Redaktion rechtfertigen soll.

Die Situation ist so dramatisch wie skurril. Paul Kisch, der Bruder, arbeitet als Redakteur in dem Haus, und als der "rasende Reporter" alle Redakteure zum Verlassen der Redaktion auffordert, sagt Paul: "Egonek, Egonek, das schreibe ich der Mama." So will es die österreichische Mythologie, der kein Ereignis zu groß ist, um es nicht auf die Größe einer Anekdote schrumpfen zu lassen. Arthur Schnitzler bemerkt mit Blick auf den 12. November 1918, dass auch "ein welthistorischer Tag in der Nähe nicht sehr großartig aussieht".

Aber ein Tag allein, auch der wichtigste, erzählt nie die ganze Geschichte. Schon in den Wochen zuvor überschlagen sich die dramatischen Ereignisse. Am 21. Oktober konstituiert sich im Niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse die provisorische Nationalversammlung für "DeutschÖsterreich"; am 26. Oktober löst Kaiser Karl I. per Telegramm an Kaiser Wilhelm II. das Bündnis mit Deutschland; tags darauf bittet Karl die Alliierten um einen Sonderfrieden; vergeblich. Am 28. Oktober wird in Prag die Tschechoslowakische Republik ausgerufen. Am 30. Oktober nimmt die Provisorische Nationalversammlung die vorläufige Verfassung an. Erster Beschlusspunkt auf der Tagesordnung ist eine Note an US-Präsident Woodrow Wilson, worin festgehalten ist, dass der "neue Staat" die "Gebietshoheit über alle jene Gebiete des bisherigen Österreich", beanspruche, "in denen die Deutschen die Mehrheit der Bevölkerung bilden". Im Anschluss erfolgt die "Beschlussfassung über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt" sowie die Wahl eines Staatsrats mit drei Präsidenten, bestehend aus dem Sozialdemokraten Karl Seitz, dem Christlichsozialen Johann Hauser und dem Großdeutschen Franz Dinghofer.

Am Abend dieses 30. Oktober 1918 ist für den Verfassungslehrer Hans Kelsen "die Konstituierung des Staates Deutsch-Österreich vollendet" –  und zwar als Demokratie, als Republik und als Bruch mit dem vorangegangenen Gebilde der Monarchie. Allerdings residiert Kaiser Karl weiter in Wien, de jure regieren in Österreich in diesen chaotischen Tagen zwei Staatsgewalten, die alte kaiserliche und die neue republikanische, nebeneinander. Doch beide erkennen die Gefahr und entscheiden sich für ein pragmatisches Miteinander.

Doch was soll mit dem Kaiser geschehen?

Karl will nicht zurücktreten. Dabei zerfällt seine Macht vor seinen Augen. Am 3. November schließt Österreich-Ungarn mit den Alliierten einen Waffenstillstand, tags darauf legt Karl den nur noch auf dem Papier bestehenden Oberbefehl über eine Armee nieder, die ebenfalls nur noch auf dem Papier besteht. Als in Deutschland am 9. November Kaiser Wilhelm II. abdankt und am nächsten Tag ins Exil geht, fügt sich auch in Wien der Kaiser in sein Schicksal.

Am 11. November unterzeichnet Karl eine Erklärung, in welcher er "auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften" verzichtet. Im Staatsrecht hat Nicht-Handeln manchmal größere Folgen als tausend blumige Erklärungen. Mindestens so wichtig wie seine Worte, ist der Verzicht Karls, eine neue Regierung zu ernennen. Auch, als es darum geht, das Abgeordnetenhaus des Reichsrats von seinem Anteil an den Staatsgeschäften zu entbinden, löst sich dieses nicht einfach auf. Das hätte nur der Kaiser tun können, und den gibt es da schon nicht mehr; stattdessen beenden die Abgeordneten einfach die Sitzung ohne einen Termin für eine neue festzusetzen. Nicht-Handeln als hohe Staatskunst in Zeiten des Umbruchs.

Nach der chaotischen Konstituierung am 30. Oktober will die neue Republik wenigstens ihre Ausrufung feierlich in szenieren. Am 12. November. Die versuchte Revolution einiger Abenteurer scheitert als Farce. Die  tragenden Kräfte des Neuen, Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Großdeutsche, entscheiden sich für die parlamentarische Demokratie. Der Feiertag fordert trotz dem einen Blutzoll: Zwei Menschen, ein Mann und ein Kind, werden von der in Panik geratenen Menge zu Tode getrampelt.

Mit der Weisheit des Rückblicks ausgestattet, lässt sich aus den Toten recht einfach ein passender Auftakt für das spätere Scheitern der Ersten Republik konstruieren. Tatsächlich gewinnen nach schwierigen Kompromissen und ersten Erfolgen die Fliehkräfte die Überhand. Die Parteien ringen erbittert um die Macht im Staat: Rot gegen Schwarz, die Länder gegen Wien, die Folgen der Weltwirtschaftskrise ab 1929, die wachsende Legitimierung der Gewalt als Mittel von Politik, der internationale Aufstieg autoritärer und faschistischer Regime. Schließlich die Diktatur der Schwarzen über die Roten und Bürgerkrieg. Der "Anschluss" 1938 setzt den Schlusspunkt hinter diese Talfahrt.

Wer die Republik 1918 von Anfang an auf der schiefen Bahn sieht, verkennt jedoch, dass die Geschichte keinem festen Plan folgt. Außer Zweifel steht, dass die Rahmenbedingungen von Anfang an schwierig waren, und dass, als es endlich bergauf zu gehen schien, die nächste Krise alles wieder zunichte machte. Das Scheitern war trotzdem nie vorherbestimmt. An jeder Weggabelung hatten es die Akteure in der Hand, sich anders zu entscheiden. Dass sie wieder und wieder dennoch nichts taten, daran ging die Erste Republik zugrunde.

Geschichte wiederholt sich nicht, nicht einmal als Farce. Gottseidank. 1945 erhielt die rot-schwarze Politiker-Generation, die zuvor scheiterte, eine zweite Chance. Sie packte diese beim Schopf und errichtete auf den Trümmern der Ersten die Zweite Republik.

Die folgenden Jahrzehnte schreiben eine Erfolgsgeschichte, die keinen Vergleich zu scheuen braucht. Nicht einmal, wenn die Schattenseiten dieser Ära ausgeleuchtet werden. Das ist zuvorderst die Leistung der Menschen; glückliche geopolitische Umstände haben ihren Beitrag geleistet; nirgendwo stand geschrieben, dass sich Österreich auf der freien Seite des Eisernen Vorhangs wiederfinden muss. Zweifellos gebührt auch der Politik, zuvorderst ÖVP und SPÖ, ein Verdienst.

Doch Dankbarkeit ist keine politische Kategorie, und eine erfolgreiche Vergangenheit ist keine Garantie für eine ebensolche Gegenwart. Zum hundertsten Geburtstag ihrer Republik haben Bürger wie Parteien das Gefühl, die Verhältnisse geraten aus dem gewohnten Lot. In den Fakten findet sich für diese verbreitete Verunsicherung wenig Grundlage. Der Wohlstand ist beachtlich, die Wirtschaft floriert, das soziale Netz ist dicht geknüpft und Millionen Touristen aus aller Welt beneiden uns um unsere Städte, Kultur und Natur.

Probleme gibt es dennoch. Sehr große wie die Globalisierung von Kapital und Produktion; die Not im Süden, die die Menschen dazu bringt, sich in den Norden aufzumachen; den Klimawandel. Und etwas kleinere, deshalb aber nicht unwichtigere, wie die Mängel im Bildungssystem, die Strukturen des Staats schlank und trotzdem effizient zu halten, die sozialen Sicherungssysteme an neue Rahmenbedingungen anzupassen und anderes mehr.

All dies zusammengenommen vermag keine Republik allein zu bewältigen. Bei den ganz großen braucht sie Hilfe, von Europa und darüber hinaus; bei den anderen sind wir unseres Glücks eigener Schmied. Insgesamt gilt: Für Pessimismus zum Geburtstag besteht kein Anlass. Die Probleme der Vergangenheit waren zwar andere, aber sicher nicht kleinere. Also Glückwunsch.