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In allen Fugen kracht es

Von Edgard Haider

"O Schuld, unendliche Schuld von uns allen, grausam gerächt bis ins siebente Glied... Noch immer klagen wir nicht genug unsere Schuld an, ahnungslos gewesen zu sein. Noch immer danken wir noch nicht jenen genug, die es nicht gewesen sind." So beklagt Stefan Zweig Ende 1917 in einem Zeitungsartikel die unfassbare Tatsache, dass der vierte Jahreswechsel in einem Krieg bevorsteht, wie ihn die Welt in solchen Ausmaßen des Schreckens noch nie gesehen hat. Wie haben die Massen im Hochsommer 1914 den Krieg enthusiastisch als Erlöser bejubelt, einem reinigenden Gewitter gleich. Viele der damaligen "Hurra-Patrioten" sind auf dem "Feld der Ehre" geblieben, es gibt kaum eine Familie, die nicht einen Gefallenen, einen Kriegsinvaliden oder einen an der Front Vermissten zu beklagen hat. "Grausam gerächt bis ins siebente Glied", so fühlt sich das Alltagsleben Wiens an. Denn der technisierte Krieg ist auch Wirtschaftskrieg, der die Millionenmetropole von lebenswichtigen Zufuhren abschneidet. Die mangelnde Versorgung der Stadtbevölkerung hat mittlerweile zu einer Hungerkatastrophe geführt. Mit der Rationierung von Brot und Mehl im April 1915 hat die Mangelwirtschaft begonnen. Brot wird mit Maismehl, Gersten- oder Kartoffelwalzmehl gestreckt. Waren es anfangs nur 30 Prozent, sind es 1918 bereits 70 bis 80 Prozent. Schon längst sind Milch, Zucker, Butter, Kaffee und zuletzt auch Fleisch streng rationiert und nur über amtliche Bezugskarten erhältlich. Der Besitz einer solchen Karte bedeutet aber nicht, dass man die entsprechende Ware auch tatsächlich erhält.

Anstellen und Hamstern:
zwei Massenphänomene

Der Mangel an lebenswichtigen Gütern führt zu einem beispiellosen Massenphänomen – dem Anstellen. Hunderttausende Großstadtbewohner stellen sich täglich vor Markthallen und Greißlereien an, um bei Öffnung der Geschäfte zu den Ersten zu gehören. Nur dann hat man eine Chance, mit voller Tasche oder vollem Korb nach Hause zu gehen. Daher ist es am besten, sich bereits in den Nachtstunden anzustellen, egal ob es "waschelt", stürmt oder schneit. Geht man leer aus, so bleibt einem nur, sich die Nahrungsmittel dort zu holen, wo sie herkommen. Also auf zum Bauern aufs Land rund um Wien! Der "Hamster" wird zum zweiten Massenphänomen. Ausgerüstet mit Rucksack oder Jutesack macht sich der ausgehungerte Großstädter in irgendein "Nest" auf, wo es Mehl, Kartoffel, Milch oder Eier gibt. Doch was hat man dem Bauern anzubieten als Gegenwert? Dass er auf Geld bei der kriegsbedingten Inflation nicht Wert legt, ist verständlich. Also bleibt nichts anderes übrig, als auf den Tauschhandel umzusteigen. Und so wandert manches auf den Bauernhof, das man in Friedenszeiten als unerlässlich für eine gehobene Lebensführung ansah: Porzellangeschirr, Silberbesteck, Perserteppich, Uhren jeder Art, Biedermeiermöbel und anderes mehr. Sehr gefragt ist neumodische Technik im Dienste der Unterhaltung, in erster Linie Grammophone. Auch so mancher Klavierflügel steht plötzlich in einem Stadel. Die Bäuerin wiederum erfreut sich an Dingen, die sie zwar nicht gebrauchen kann, die ihr aber das Flair der eleganten Welt ins Haus bringen: Seidenkleider, Samtjacketts, Stöckelschuhe, aufgeputzte Hüte, Fächer, Operngucker. Wer all das nicht bieten kann, der verdingt sich als Erntehelfer auf dem Feld, und sei es nur für einen Sack Kartoffeln.
Hat man das so heiß Begehrte endlich im Rucksack und macht sich auf den Heimweg, so ist noch lange nicht gesagt, dass es tatsächlich auf dem heimischen Küchentisch landet. Denn nun drohen Kontrollen auf den Bahnhöfen. Beamte der Finanzwache und Gendarmen sind beauftragt, darauf zu achten, dass die höchstzulässigen Mengen bei rationierten Lebensmitteln eingehalten werden. Zahlreich sind die Tricks, um die Beamten zu täuschen. Doch die kennen längst die ganze Palette der Täuschungsmanöver und konfiszieren gnadenlos. In Schreiduellen, mitunter Tätlichkeiten entlädt sich der Zorn der Überführten. Lieber verschütten sie die Milch, zertreten die Eier, als sie gebrauchsfähig den Behörden zu überlassen.

"Wir spielen Weltkrieg"

Am ärgsten trifft die Hungerkatastrophe Wiens Kinder. 14-jährige Buben wiegen im Durchschnitt 30 statt altersgemäß 41 Kilogramm. Bei Mädchen ist die Situation etwas besser. Auch im Größenwachstum sind die unterernährten Kinder zurückgeblieben. Die Einrichtung einer Kriegskinderküche in Wien Meidling vermag die Not nicht nachhaltig zu lindern. Eine größere Erleichterung bietet die Aktion "Kaiser Karl Wohfahrtswerk, Kinder aufs Land". In den Sommerferien können sich Schulkinder auf Bauernhöfen, vornehmlich im besser gestellten Ungarn, erholen und so richtig satt essen. Nahezu 72.000 Buben und Mädchen werden angemeldet, das sind 30 Prozent aller Wiener Schulkinder. Um die Gesundheit der Kleinen ist es schlecht bestellt. Tuberkulose und Rachitis grassieren in erschreckendem Ausmaß. Der Mangel an Vitamin D beeinträchtigt die normale Knochenbildung. Solche Kinder sind für ihr ganzes Leben gezeichnet.
Nachteilig für Kinder wirkt sich der Krieg auf die Schule aus. Etwa 150 Pflichtschulen der Gemeinde Wien sind für die Armee beschlagnahmt worden. Die Ersatzquartiere sind für einen qualitätsvollen Unterricht schlecht geeignet. Aber dieses Opfer gilt als unentbehrlich, müssen die Kinder doch begreifen, dass auch sie "Soldaten der Heimatfront" sind. Da ist Gedichtelernen, Bruchrechnen oder Schönschreiben doch wahrhaft zweitrangig! Gefragt sind jetzt Dienste im Abwehrkampf gegen einen heimtückischen Feind, der das Vaterland vernichten will. Vorrang haben deshalb Boten- und Kanzleidienste, sogenannte Labedienste für Soldaten auf den Bahnhöfen, Sammeln für den Buntmetallbedarf der Armee oder Ernteeinsätze in den Weinbergen und Kriegsgemüsegärten. Und wenn schon kindliches Spielen, dann sind da ja auch Kinderbücher geeignet, wie etwa "Wir spielen Weltkrieg".

Requiem für die Phäakenstadt

Alle leiblichen Genüsse schwelgerisch auszukosten, dafür waren die Wiener bekannt. Doch was ist geblieben von der "Phäakenstadt"? Fasching kann es keinen geben im Krieg. Es wäre unschicklich, das Tanzbein zu schwingen, wenn draußen an der Front Tag für Tag Soldaten fallen. Zudem ist keine Kohle vorhanden, um Ballsäle zu heizen. Was war das noch 1914 für ein Trubel, jeder kleine Sparverein veranstaltete ein Kostümkränzchen, an die Nobelbälle mit all ihrer Eleganz und ihren Strömen von Champagner gar nicht zu denken. Und dann erst die Faschingskrapfen! Dazu fehlt Weißmehl, und ohne dieses lässt sich solch ein flaumiges Gebilde gar nicht kreieren. Viel Spaß boten damals auch die Faschingsumzüge in Hernals und Ober St. Veit! Dahin, dahin! Das alles ist kalendarisch erst vier Jahre her, aber gefühlsmäßig eine Ewigkeit. Das gilt genauso für die Firmungszeit. Die mit Schlagobers gefüllten Indianerkrapfen sind nur wehmütige Erinnerung, und kaum ein "Göd" ist mehr in der Lage, seinem Firmkind die obligate goldene Uhr zu schenken. Nicht einmal Luftballons gibt es zu kaufen, denn Gummi ist ausschließlich für die Armee reserviert.
Überhaupt mutet es wie eine Legende an, wenn man an die kleinen Genüsse des Alltags in Friedenszeiten denkt. Frankfurter Würstel mit einem Salzstangerl oder einer reschen Kaisersemmel zum Gabelfrühstück, das war keine exklusive Gewohnheit, ebenso das "kleine Golasch". Nicht einmal im Rathauskeller sind diese Gaumenfreuden mehr zu bekommen.
Jetzt muss ein heiß gemachter Kukuruz (Maiskolben) genügen. Sogar sein heiß geliebtes Kaffehaus wird dem Wiener verleidet, ist doch der Ausschank von Milchkaffee in den Kaffeehäusern seit Dezember 1917 verboten. Man brauche die Milch für Kinder, Greise und Schwerkranke, heißt es amtlich. Auch die Melange ist damit dem Krieg zum Opfer gefallen.

Letzter Glanz der Kaiserstadt

Gibt es noch irgendetwas, das vom Glanz der Kaiserstadt geblieben ist? Ja doch, etwa die Fronleichnamsprozession in der Inneren Stadt. Das Kaiserpaar, begleitet von den prächtig uniformierten Leibgarden, der Arciéren-, der Trabanten- und der Ungarischen Garde, dazu die Hofwürdenträger mit ihren goldbestickten Uniformen. Hier zeigt der Hof zum letzten Mal seine ganze Pracht. Im März feiert Wien die Geburt eines kaiserlichen Prinzen, des "purpurgeborenen" Carl Ludwig, mit 101 Salutschüssen, Beflaggung und Dankgottesdiensten. Auch Kaiser Karls 31. Geburtstag, am 17. August, wird so wie einst mit einer sogenannten Retraite gefeiert. Militärkapellen ziehen, von Lampionträgern begleitet, entlang von vier Routen durch die Stadt. Auch das ist ein Abschied für immer.
"In allen Fugen kracht es", das kann man allerorten spüren. Und so drückt es auch der sozialdemokratische Politiker Karl Leutner in einer Rede im Abgeordnetenhaus aus, in der er mit der missglückten Offensive der k.u.k. Armee am Piave im Juni 1918 scharf ins Gericht geht. Von dieser Rede dringt nichts an die Öffentlichkeit, denn die Sitzung ist geheim. Schon die Massenstreiks Hunderttausender Arbeiter im Jänner dieses Jahres waren ein Menetekel an der Wand. Ausgelöst wurden sie durch eine Kürzung der Mehlration. Immer stärker treten politische Forderungen bei diesen Streiks hervor. Die alten Autoritäten der Monarchie fürchten das Beispiel der bolschewistischen Machtübernahme in Russland. Mit dem Spätsommer werden die Anzeichen des bevorstehenden Untergangs des Habsburgerreiches immer deutlicher. Der wohlmeinende, aber ungeschickt agierende junge Kaiser Karl tritt die Flucht nach vorne an. Zu spät erlässt er das Völkermanifest, das den Nationen der österreichischen Reichshälfte die Bildung von Nationalräten gestattet. Die deutschösterreichische Nationalversammlung wird rasch zur Basis für die Gründung der Republik, die nach dem Machtverzicht des Kaisers am 12. November 1918 Wirklichkeit wird. Die einst stolze k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien ist in diesem letzten Kriegsjahr zur Metropole am Bettelstab herabgesunken. Politisch steht ihr nach dem Sturz aus einst lichten Höhen ein steiniger Weg der Selbstfindung bevor.

Die Bilder sind folgendem Band entnommen:
Edgard Haider: "Wien 1918. Agonie der
Kaiserstadt." Böhlau Verlag 2017, 30 Euro.