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Von der Wirkmacht der Ereignisse

Von Heinz Fischer

100 Jahre Republik - ein Festreigen, der aufzeigt, wie sehr Geschichte in Zusammenhängen gedacht werden muss.


Das Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018 ist noch nicht zu Ende, aber zurzeit liegen immerhin bereits 7/8 des Jahres hinter uns und daher können wir beginnen, über eine erste Zwischenbilanz der Gedenkveranstaltungen und sonstiger Aktivitäten nachzudenken.

Was mir in diesen Tagen besonders stark bewusst wurde, ist die Tatsache, wie sehr auch zeitlich weit auseinanderliegende Ereignisse miteinander vernetzt und verknüpft sind beziehungsweise aufeinander einwirken.

Die Revolution des Jahres 1848 ist zwar gescheitert, aber ihre Auswirkungen reichten bis in die Zeit nach der Gründung der Republik hinein. Die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges hatten direkten Einfluss auf den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Der französische Marschall Ferdinand Foch soll beim Abschluss des Friedensvertrages von Versailles gesagt haben, dies sei kein Friedensvertrag, sondern nur ein Waffenstillstand für zwei Jahrzehnte: Höchst erstaunlich, mit welcher Präzision dieses pessimistische Urteil eingetroffen ist.

Die Erste Republik in Österreich wiederum hatte (trotz eines mutigen und zukunftsorientierten Beginns) als letztlich gescheiterte Epoche einen starken Einfluss auf die Zweite Republik, und zwar beim Vermeiden der Fehler aus der Zeit der Ersten Republik. Und dass der Beginn der europäischen Integration und der Aufbau der EU seine stärksten Antriebskräfte im Bemühen hatte, einen weiteren großen europäischen Krieg zu vermeiden, ist unbestritten.

1848 wirkt bis in die Bundesverfassung nach

Vor diesem Hintergrund kann man mit einer gewissen Genugtuung feststellen, dass es im Frühjahr 2018 - nicht zuletzt durch eine große und informative Ausstellung im NÖ Landhaus - gelungen ist, den oft als "vergessene Revolution" bezeichneten Aufbruch des Jahres 1848 wieder stärker ins Gedächtnis zu rufen. Diese Revolution ist zwar niedergeschlagen worden, aber mehrere Generationen von Politikern und Intellektuellen bis zu Viktor Adler und Otto Bauer wurden von den Zielen der 1848er-Revolution stark beeinflusst, die ja tatsächlich in den Staatsgrundgesetzen von 1867 einen konkreten Niederschlag gefunden hat und auf diesem Weg bis in die heute noch geltende österreichische Bundesverfassung hineinwirkt.

Die Gründung der Republik am 12. November 1918 wurde heuer so intensiv gefeiert wie noch nie in der Geschichte unseres Landes. Sie erfolgte bekanntlich in Übereinstimmung zwischen Deutschnationalen, Christlichsozialen und Sozialdemokraten; und da der Übergang von der Habsburger Monarchie mit einer mehr als 600-jährigen Geschichte zur Republik Deutschösterreich ja wirklich ein historisches Ereignis war, beschloss die Konstituierende Nationalversammlung wenige Monate später, nämlich am 25. April 1919, den 12. November zum "Staatsfeiertag" zu erklären.

Aber die Phase der Zusammenarbeit zwischen den drei staatsgründenden Parteien und die ungeteilte Freude über den 12. November als Gründungsdatum der Republik währte nicht lange: Noch vor dem Sommer 1920 zerbrach die Koalition zwischen den Sozialdemokraten und den Christlichsozialen.

Der Staatsfeiertagim Wandel der Zeit

In einer letzten großen, gemeinsamen Anstrengung gelang es noch, ein Einvernehmen über die neue österreichische Bundesverfassung zu erzielen, die am 1. Oktober 1920 einstimmig beschlossen werden konnte. Aber bei den nachfolgenden Nationalratswahlen vom 17. Oktober 1920 wurden die Christlichsozialen zur stärksten Partei im Nationalrat, bildeten eine "bürgerliche" Koalitionsregierung und die Sozialdemokraten landeten in der Opposition. Die politischen Spannungen zwischen Links und Rechts in der jungen Republik vergrößerten sich. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums wuchsen die Zweifel an der demokratischen Republik und im selben Ausmaß reduzierte sich die Freude über den 12. November 1918. Der Nationalfeiertag entwickelte sich in wachsendem Maße zu einem Feiertag, der nur von der einen Hälfte der Bevölkerung gefeiert wurde, während ihm die andere Hälfte der Bevölkerung immer distanzierter gegenüberstand.

In der autoritären Verfassung vom Mai 1934, die nach der Ausschaltung des Nationalrates zum Zweck der Errichtung eines autoritären Ständestaates am 1. Mai 1934 erlassen wurde, kam weder das Wort "Demokratie" noch das Wort "Republik" vor. Österreich wurde von einer demokratischen Republik zu einem "Bundesstaat Österreich" und der 1. Mai, nämlich der Geburtstag dieser autoritären Verfassung, wurde anstelle des 12. November zum neuen Staatsfeiertag erklärt. Ein Staatsfeiertag, der nie im Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung verankert war. Mit dem Untergang Österreichs durch den sogenannten Anschluss an Hitlerdeutschland im März 1938 ist auch dieser "Staatsfeiertag" untergegangen und die gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, nach der Niederlage Hitlers gegründete Zweite Republik Österreich hatte zunächst keinen Staatsfeiertag.

Erst nach Abschluss des österreichischen Staatsvertrags und der vollen Wiederherstellung der staatlichen Souveränität und Selbständigkeit Österreichs begann man wieder über einen Staatsfeiertag oder Nationalfeiertag nachzudenken, wobei die Sozialdemokraten, die am 12. November 1948 - also zum 30. Geburtstag der Republik - eine große Republikfeier veranstaltet hatten, am liebsten wieder auf den 12. November
als österreichischen Staats- oder
Nationalfeiertag zurückgegriffen hätten.

Mit diesem Gedanken konnte sich aber die ÖVP nicht anfreunden. Somit kamen zunächst der 27. April, nämlich der Gründungstag der Zweiten Republik, oder der 15. Mai, also der Tag des Abschlusses des Staatsvertrages, in Frage. Schließlich machte aber ein "Außenseiter" das Rennen, nämlich der 26. Oktober, also der erste Tag nach dem Abzug aller ausländischen Besatzungstruppen, der auch der Tag der Beschlussfassung des Verfassungsgesetzes über die österreichische Neutralität war.

Bemerkenswerte Redenbei den Feierlichkeiten

Seit diesem Zeitpunkt hat sich nicht nur der Begriff eines Nationalfeiertages, sondern auch die Tatsache, dass Österreich eine selbständige Nation, ein mehrheitlich deutschsprachiges Land mit einer eigenen österreichischen Identität ist, immer mehr durchgesetzt und gefestigt.

Der 100. Geburtstag der Republik wurde daher als Staatsakt in der Staatsoper gefeiert, bei dem die kluge und nachdenkliche Rede von Maja Haderlap - einer Angehörigen der slowenischen Minderheit in Österreich - einen tiefen Eindruck machte.

Schon einige Monate früher - am 4. Mai 2018 - gab es den Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus. Die Rede, die der österreichische Schriftsteller, Michael Köhlmeier aus diesem Anlass hielt, war sehr eindrucksvoll aber erwartungsgemäß nicht unumstritten; die am meisten kritisierten Sätze lauteten: "Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem Schritt. Sondern mit vielen kleinen. Von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung. Erst wird gesagt, dann wird getan." Und weiter: "Auch früher hat es auf der ganzen Welt schon Menschen gegeben, die sich damit brüsteten, Fluchtrouten geschlossen zu haben."

Aber Hand aufs Herz: Sind das nicht wahre, ehrliche und notwendige Sätze? Ist es nicht so, dass sich in der Geschichte die großen Übel und Übeltaten oft zunächst nur mit vielen kleinen "gesagten" Einzelschritten herangetastet und herangeschlichen haben, bis schließlich das große Übel unentrinnbar vor uns stand und dann nicht nur "gesagt", sondern auch "getan" wurde? Und auch über gesperrte Fluchtrouten findet man viel Trauriges in der zeitgenössischen Literatur.

Nicht jeder kleine Schritt in eine falsche Richtung führt zu einem großen Übel, aber es muss erlaubt sein und ist sogar notwendig, auch kleine Schritte, die man für falsch oder gefährlich oder unmoralisch hält, zu kritisieren, um einem Übel - wie groß oder klein es sein mag - vorzubeugen.

Demokratie als permanente Herausforderung

Eine in den bisherigen Veranstaltungen zum Republikjubiläum besonders häufig gestellte Frage lautet: "Ist unsere Demokratie stabil - oder gibt es Gründe zur Sorge für die Zukunft unserer Demokratie?" Eine naheliegende, aber sehr schwer zu beantwortende Frage. Meine persönliche Meinung dazu lautet wie folgt:

Die österreichische Demokratie hat eine stabile Entwicklung durch mehr als sieben Jahrzehnte hinter sich. Aber die Demokratie braucht Demokraten, und es ist eine permanente Aufgabe, die heranwachsenden Generationen mit unserer Demokratie vertraut zu machen.

Nur ganz Wenige wagen es derzeit, unsere Demokratie direkt anzugreifen - zum Unterschied von den letzten Jahren der Ersten Republik. Es gibt allerdings Verhaltensweisen und Eigenschaften, die die Demokratie zwar verbal bejahen, ihr aber ohne Zweifel Schaden zufügen: zum Beispiel ein aggressiver und egoistischer Nationalismus, der nicht nur unserer pluralistischen Demokratie, sondern der demokratischen Entwicklung in ganz Europa schadet.

Haus der Geschichte als Vermächtnis des Gedenkjahres

Dass wir am Ende des Jahres 2018 über ein "Haus der Geschichte Österreich" als ständiges Diskussionsforum und Zeitgeschichtelaboratorium verfügen, ist eines der positiven Ergebnisse des Gedenk- und Jubiläumsjahres 2018. Aber das Bekenntnis zur Demokratie, das Bemühen um Menschenrechte und Menschenwürde sowie die Ablehnung eines egoistischen und kurzsichtigen Nationalismus darf nicht auf ein Jubiläumsjahr beschränkt sein, sondern bleibt eine permanente Aufgabe.

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