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Viele offene Fragen rund um den "Anschluss"

Von Robert Sedlaczek

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Robert Sedlaczek ist Autor zahlreicher Bücher über die Sprache. Zuletzt ist "Österreichisch für Anfänger" im Verlag Amalthea erschienen, ein heiteres Lexikon, illustriert von Martin Czapka.

Im März 1938 marschierten Hitlertruppen in Österreich ein - das war das vorläufige Ende der Eigenstaatlichkeit Österreichs.


Der Kabarettist Michael Mittermeier, ein Bayer, feixte vor einigen Jahren bei einem Auftritt im "Gasometer": "Ich bin auf der Autobahn zu euch gefahren. Auf einer Tafel stand ,Anschlussstelle Sankt Marx‘. Da hab ich mir gedacht: Aha, dort war’s." Verhaltenes Lachen im Publikum. Ich hatte das Gefühl, im "Gasometer" eine gewisse Erleichterung zu verspüren: Endlich wird auch über den "Anschluss" gescherzt! Für Nicht-Wiener: "Gasometer" ist eine Veranstaltungshalle im Stadtviertel St. Marx. Dort treten Kabarettisten und Popgruppen auf.

Bei der Bewertung des historischen Ereignisses scheiden sich die Geister. Es gibt viele Fragen, die kontroversiell diskutiert werden. Zum Beispiel: War es ein politischer Fehler, dass Kurt Schuschnigg eine Volksabstimmung ansetzte, mit der er Adolf Hitler provozieren musste?

Fakt ist: Der Beschluss zur Volksabstimmung war nicht verfassungskonform, und zunächst bestand die Absicht, in den Wahllokalen nur Stimmzettel mit "Ja" zur österreichischen Eigenständigkeit aufzulegen. Als dann die Nazitruppen einmarschierten, war Schuschnigg bereits zum Rücktritt gezwungen worden, ein Nazi, Arthur Seyß-Inquart, war Bundeskanzler.

Diskussionswürdig ist auch die Rolle des Bundesheers. Warum gab es keinen militärischen Widerstand? Von sozialdemokratischer Seite wird in diesem Zusammenhang argumentiert, dass das Bundesheer zwar 1934 auf Arbeiter geschossen, aber 1938 nicht einmal einen symbolischen Widerstand geleistet habe.

Auch hier gibt es Gegenargumente. Im Berchtesgadener Abkommen wurde Schuschnigg genötigt, den fanatischen Nationalsozialisten Franz Böhme zum Generalstabschef zu ernennen. Als die Hitlertruppen einmarschierten, stand das Heer bereits unter nationalsozialistischer Führung. Nur in Bregenz wurde den Wehrmachtseinheiten zunächst der Grenzübertritt verweigert - weil der dortige Kommandant keine Befehle aus Wien erhalten hatte.

Und die wichtigste Frage: Wie wäre die nach dem Anschluss von Hitler inszenierte Volksabstimmung ausgegangen, wenn sie nicht so massiv manipuliert gewesen wäre? Presse und Rundfunk waren bereits in der Hand der neuen Machthaber, eingeschüchterte Wähler machten außerhalb der Wahlzelle das Kreuz bei "Ja", um zu vermeiden, als "Systemgegner" eingestuft zu werden. Die Massenverhaftungen gleich nach dem Einmarsch waren an den Menschen nicht spurlos vorübergegangen. Im Vorfeld hatte die Spitze der katholischen und auch der evangelischen Kirche aufgefordert, mit "Ja" zu stimmen, genauso Politiker wie Karl Renner und Michael Hainisch sowie Künstler wie Paula Wessely, Paul Hörbiger und Karl Böhm.

Historiker meinen, dass bei einer seriösen Abstimmung etwa 80 Prozent mit "Ja" gestimmt hätten, was aber nicht gleichbedeutend mit einem Bekenntnis zum Nationalsozialismus gewesen wäre. Und nach einem Bericht der Gestapo soll in Wien nur ein Drittel für den "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich gewesen sein.

Ich schließe mit einem Satz aus Bert Brechts "Der gute Mensch von Sezuan": "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen." Jeder muss sich zu diesem Ereignis seine eigene Meinung bilden.