Noch am frühen Morgen des 11. März 1938 glaubte Schuschnigg nur an "Einschüchterungsmanöver" der Nationalsozialisten statt an einen bevorstehenden Einmarsch. Wie konnte es zu einer derartigen Fehleinschätzung kommen?

Er wollte es halt so sehen. Es war wohl eine Form von Selbstsuggestion. Das Einzige, was ihn damals hätte retten können, wäre entschlossene Hilfe von außen gewesen. Also wenn Frankreich und England und vor allem Mussolinis Italien bereit gewesen wären, für Österreich buchstäblich in den Krieg zu ziehen. Schuschnigg wollte mit allem, was er seit dem Juliabkommen 1936 tat, vor allem eines: nämlich Zeit gewinnen, in der Hoffnung, dass sich die internationale Lage noch verbessern würde. Aber das hat sie nicht - ganz im Gegenteil. Für die Engländer waren die Österreicher sowieso Deutsche - daher rührten sie keinen Finger und setzten lieber auf ihre Appeasement-Politik. Der Jubel der Österreicher bestätigte sie in ihrer Haltung. Frankreich hing am Rockzipfel Englands, und Italien stand sowieso längst im Lager Deutschlands.

Sind Sie bei Ihrer Beschäftigung mit dieser Zeit selbst zu einer endgültigen Beurteilung Schuschniggs gekommen?

Stellte 1938 für viele Nazi-Gegner - vor allem für die Juden - so etwas wie die letzte Hoffnung dar, die er aber schließlich nicht erfüllen konnte: Kurt Schuschnigg (hier 1934). - © Wikipedia gemeinfrei
Stellte 1938 für viele Nazi-Gegner - vor allem für die Juden - so etwas wie die letzte Hoffnung dar, die er aber schließlich nicht erfüllen konnte: Kurt Schuschnigg (hier 1934). - © Wikipedia gemeinfrei

Eigentlich muss man dafür bis ins Jahr 1934 zurückgehen. Dollfuß wollte ihn damals bereits als Minister absetzen. Dann kam alles anders - und Schuschnigg ist hauptsächlich deshalb Kanzler geworden, weil kein anderer Minister sich ernsthaft für diese Position angeboten hätte. Schuschnigg wird, wie ich finde, von der Geschichte ein wenig ungerecht behandelt. Dollfuß hat man später innerhalb der ÖVP als Märtyrer und Helden gefeiert, was er überhaupt nicht war. Bei Schuschnigg waren nach 1945 alle froh, dass er in die USA ging und dort blieb. Dabei stellte er 1938 für viele Nazi-Gegner - vor allem für die Juden - so etwas wie die letzte Hoffnung dar. Mit einem endgültigen Urteil tue ich mir schwer - er ist und bleibt eine ambivalente Figur.

Kommen wir zum "Anschluss", also zu den Ereignissen in den Tagen rund um den 11. März 1938: Sie beschreiben im Buch sehr eindrücklich den Jubel beim Einmarsch deutscher Soldaten in Wien. Gab es auch Widerstand in diesen Tagen?

Auffälliger öffentlicher Protest hat sich meines Wissens nach nicht artikuliert. Und von regelrechten Widerstandshandlungen ist mir nichts bekannt. Viele sind zu Hause gesessen, haben Schuberts "Unvollendete" angehört - die nach Schuschniggs Abschiedsrede ausgestrahlt wurde - und haben geweint. Wir kennen halt nur die Bilder von jenen, die auf der Straße gewesen sind und gejubelt haben, aber nicht von jenen, die voller Angst und Schrecken daheim geblieben sind. Aber in der Tat zeigen Tagebücher und lebensgeschichtliche Aufzeichnungen, wie die Stimmung damals bei vielen Menschen praktisch von einer Sekunde auf die andere umschlägt: Bei vielen löst der Schuschnigg-Rücktritt zuerst Ratlosigkeit und Schock aus. Aber dann wird der "Anschluss" ziemlich rasch als "die" Lösung empfunden. Die Österreicher haben sich - wie es der Soziologe Leopold Rosenmayr treffend beschreibt - "überwältigen" lassen.