
Könnte man in gewisser Weise sagen, dass der Österreich-Patriotismus, der bis heute wirkt und eine stark verwurzelte Mentalität im Land ist, seine Geburtsstunde in diesen Tagen 38/39 hatte?
Ja, ich denke schon, dass man rasch das Gefühl entwickelte, sich in etwas verrannt zu haben, bald damit begann, eine Art von Reue zu empfinden. Nicht alle Österreicher natürlich, aber viele. Und mit zunehmendem Krieg wurden es immer mehr. Man müsste diese damaligen Stimmungen noch genauer erforschen, Tagebücher, Briefe und sonstige lebensgeschichtliche Dokumente systematisch auswerten. Dann könnte man das sich zuerst langsam und schließlich immer schneller vollziehende Umschlagen der Volksstimmung besser nachzeichnen.
Dazu passt natürlich auch, dass sich Österreich durch die "Moskauer Deklaration" aus dem Jahr 1943 als erstes Opfer der "typischen Angriffspolitik Hitlers" fühlen durfte. Darauf haben sich Generationen heimischer Politiker berufen. Was bedeutet diese "Opferthese" für die Aufarbeitung der NS-Zeit?
Zuerst einmal war sie ein Segen für die Nachkriegspolitik. Man konnte sich darauf berufen, dass die Siegermächte selbst Österreich als erstes Opfer Hitlers bezeichnet hatten, dass Österreich also keinerlei Schuld an all dem haben konnte, was Schlimmes geschehen war. Damit konnte man wirksam Druck für den Staatsvertrag machen und jüdische Ansprüche abschmettern.
Aber hat dies für heimische Historiker nicht auch bedeutet, dass die NS-Ära - im Gegensatz zu Deutschland - relativ spät aufgearbeitet werden konnte und dies zur Folge hatte, dass die Zeitzeugen zum Großteil weggestorben sind?
Ja sicher, man konnte die Schuldfrage relativ bequem wegschieben. Später erwies sich diese im Grunde sehr verlogenen Haltung - nämlich völlig unschuldig zu sein - zunehmend als hinderlich in der notwendigen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Ob man tatsächlich um so viel später dran war als in Deutschland, darüber könnte man ewig streiten. Ich bezweifle das. Die Vernichtung der Juden wurde - sowohl in Österreich als auch in Deutschland - erst ab der Ausstrahlung der TV-Serie "Holocaust" Ende 1979 wirklich zu einem großen öffentlichen Thema. Diese Serie hat Millionen Menschen wachgerüttelt. Und damit erst hat die Diskussion voll eingesetzt, ob Österreich tatsächlich ein Opfer war, ob die Opferthese überhaupt zutrifft.
Spätestens mit der Waldheim-Debatte von 1986 kann man die Opferthese als überwunden ansehen. Für mich gilt nach wie vor die Vranitzky-Erklärung von 1991: nicht Österreich als Staat, aber die österreichische Gesellschaft hat Schuld auf sich geladen. Im Gegenzug zur Opferthese entwickelte sich eine Art "Täterthese". Sie beruht auf einem Memorandum Simon Wiesenthals aus 1966, wonach Österreicher unter den NS-Tätern stark überrepräsentiert gewesen wären.