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Frau Kuk liegt im Sterben

Von Andrea Reisner

Am 17. Oktober 1918 wurde Kaiser Karls "Völkermanifest" veröffentlicht. Es kam zu spät.


"Der Augenblick ist historisch und für immer entscheidend: soll das Reich der Habsburger bestehen oder untergehen? Noch kann alles gut gemacht, alles gerettet werden. Es gilt: jetzt oder nimmermehr!" Mit diesen energischen Worten drängte ein Mann namens Aurel C. Popovici auf die Umgestaltung der Monarchie in einen föderalen Staat. Sein in Buchform verfasstes Plädoyer trug den Titel: "Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich". Erscheinungsjahr: 1906.

Als zwölf Jahre später, am 17. Oktober 1918, Kaiser Karls "Völkermanifest" als "Extra-Ausgabe der Wiener Zeitung" (Faksimile auf der gegenüberliegenden Seite) erschien und ebendies forderte, nämlich dass die österreichische Reichshälfte, also Cisleithanien, "dem Willen seiner Völker gemäß, zu einem Bundesstaate werden" solle, war es natürlich längst zu spät. Die "Zentrifugale der Zeit" (so der Schriftsteller Franz Theodor Csokor) hatte die Nationen auseinandergetrieben. Der Zerfall des Habsburgerreichs war nicht mehr aufzuhalten.

Soziale und nationale Probleme gärten seit Jahrzehnten. Kaiser Franz Joseph, der bis zu seinem Tod am 21. November 1916 regierte, verschlief dringend nötige Reformen. Der Krieg verschärfte die Situation massiv. Als Karl die Herrschaft antrat, war die Situation bereits katastrophal.

Nun, nach mehr als vier Jahren Krieg, kauerten die Frontsoldaten unterernährt und zerlumpt in den Schützengräben. Auch die zivile Bevölkerung, vor allem in den Städten, hungerte. Lebensmittel wurden gestreckt, verdünnt und verwässert, bis sie kaum mehr Nährstoffe enthielten.

"Kriegsbrot" - 1918 bestand es schon fast zur Gänze aus minderwertigem Maismehl - lag den Leuten schwer im Magen. Eier, Fleisch oder Butter gab es oft nur zu horrenden Preisen auf dem Schwarzmarkt. Schon 1917 war es in Wien verstärkt zu Hungerdemonstrationen gekommen. Unsagbares Elend herrschte auch in den Munitionsfabriken, wo vor allem Frauen unter schlimmsten Bedingungen schufteten. Immer wieder forderten Explosionen zahlreiche Todesopfer. So zum Beispiel am 18. September 1918 in einer Fabrik in Wöllersdorf, wo mehr als 400 Arbeiterinnen verbrannten.

Einen weiteren Kriegswinter konnte und wollte man nicht überstehen. Im Herbst 1918 ließ der ersehnte Friede aber immer noch auf sich warten. Karl bemühte sich zwar darum, agierte jedoch halbherzig und ungeschickt. Sein Manifest war die Reaktion auf die Politik des US-Präsidenten Woodrow Wilson, der seine Vorstellungen einer europäischen Nachkriegsordnung in 14 Punkten präsentiert hatte. Punkt 10 sah die "freieste" Möglichkeit zur autonomen Entwicklung für die Völker Österreich-Ungarns vor - also de facto die Auflösung des Vielvölkerstaates. Als der Kaiser nun selbst dazu aufforderte, jeder Volksstamm möge durch eigene Nationalräte repräsentiert werden, kamen die "getreuen österreichischen Völker" dem nur zu gerne nach. Freilich ohne an die vom Regenten geforderte Oberhoheit Habsburgs zu denken.

Für einen scharfen Kritiker Karls, den einflussreichen Angehörigen des Herrenhauses Rudolf Sieghart, war die Initiative der "unfaßbare Irrtum", der "den Abfall der Nationen organisierte und legalisierte, den Zerfall des Reiches verkündete . . . Die Weltgeschichte kennt keinen ähnlichen Fall, wo die Auflösung eines Reichs förmlich von oben organisiert wurde."

Als Omen konnten Leserinnen und Leser der "Wiener Zeitung" eine am 18. Oktober 1918 publizierte Notiz lesen: Eine gewisse Frau Amalia Kuk sei am vorhergehenden Sonntag in Wien verstorben. Die Gattin des Präsidenten des österreichischen Militärwitwen- und -waisenfonds hatte sich besonders in der Kriegsfürsorge engagiert und unter anderem Spenden für Prothesen gesammelt. Die k.u.k. Monarchie - dies war im Oktober 1918 längst Gewissheit - würde Frau Kuk nicht mehr lange überleben.

In den kommenden Wochen widmet sich die "Wiener Zeitung" intensiv dem Republiksjubiläum, unter anderem mit einem "extra" am Samstag 3. November, "Wiener Journal" am Freitag 9. Nov. sowie einer WZ-Schwerpunkt-Ausgabe am Samstag 10. November.