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Die Vorgeschichte des 12. November 1918

Von Heinz Fischer

Mit Regierungsantritt von Kaiser Franz Joseph und der Revolution des Jahres 1848 begann der Niedergang der Monarchie.


In etwas mehr als drei Wochen feiern wir den 100. Geburtstag der Republik Österreich, die sich in ihrer Gründungsphase "Republik Deutsch-Österreich" nannte. Eigentlich war es ein Dreiklang von Ereignissen, die sich damals innerhalb von 24 Stunden abspielten und Europa veränderten:

Am 11. November die Unterzeichnung des Waffenstillstandes zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich und damit die Beendigung des Ersten Weltkrieges.

Am gleichen 11. November die Unterzeichnung und Veröffentlichung eines Manifestes von Kaiser Karl, in dem er anerkannte, dass in Österreich "das Volk durch seine Vertreter die Regierungsgewalt übernommen" hat und er gleichzeitig "auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften" verzichte.

Am nächsten Tag, dem 12. November, wurde von einer Provisorischen Nationalversammlung in Wien einstimmig die Gründung der Republik Deutsch-Österreich beschlossen und dieser Beschluss in einer Sitzungsunterbrechung von der Rampe des Parlaments aus in einer turbulenten Szene "verkündet". Damit ging die mehr als 600-jährige Herrschaft der Habsburger in Österreich zu Ende.

Aber jedes große historische Ereignis hat eine Vorgeschichte - also eine Phase der Entwicklung und der dramatischen Zuspitzung - und eine Nachgeschichte, also eine Phase der Weiterentwicklung und der Konsequenzen.

Kaiser Franz Josephleitete Untergang ein

Die Vorgeschichte zum November 1918 reicht im weitesten Sinn wohl bis zum Regierungsantritt von Kaiser Franz Joseph und bis zur "unvollendeten Revolution" des Jahres 1848 zurück. Diese Revolution - eine Reaktion auf die Ära des Absolutismus und des Polizeistaates unter Metternich - wurde mit Waffengewalt niedergeschlagen. Todesurteile wurden verhängt und vollstreckt.

Aber wichtige Gedanken und Ideen der "1848er" konnte man nicht töten. Sie setzten Kaiser Franz Joseph "und sein Team" unter Druck und erzwangen in den nächsten Jahrzehnten einen Zickzackkurs, der zwischen Reaktion und Reform, zwischen Absolutismus und Konstitutionalismus, zwischen mehr Zentralismus und mehr Föderalismus hin und her schwankte.

Als sich Kaiser Franz Joseph mit den Staatsgrundgesetzen von 1867 endgültig zur Konstitutionellen Monarchie entschloss, war es fast schon zu spät, denn in dieser Zeit begann bereits eine Entwicklung in Richtung von Massenparteien, die mehr wollten als nur "Konstitutionalismus" und die die Forderung nach sozialen Rechten und nach Abschaffung des Kurienwahlrechtes zwecks Einrichtung einer "Volksvertretung" auf die Tagesordnung setzten.

Mit der verstärkten Rücksichtnahme auf ungarische Interessen durch den Ausgleich mit Ungarn und die Schaffung einer Doppelmonarchie - gleichfalls im Jahr 1867 - wurden die Slawen vor den Kopf gestoßen und die Nationalitätenfrage spitzte sich zu.

Als der Kaiser schließlich gegen beträchtliche Widerstände der Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechtes für Männer im Jahr 1907 zustimmte, wurde das Ständeparlament zu einer Volksvertretung, die eine eigene Dynamik entwickelte.

Kaiser Karls Völkermanifest konnte nichts mehr erreichen

Bereits sieben Jahre später löste ein dramatischer Funke im Pulverfass Balkan, nämlich die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo, den Ersten Weltkrieg aus. Millionen Menschen erlebten im Zeitraffer einen fundamentalen Wandel: Mit Hurra und Patriotismus, mit Sang und Klang zogen die Soldaten in den Krieg und wurden von den Zivilisten bewundert und beklatscht. Vier Jahre später kehrten sie - falls sie den Krieg überlebt hatten - geschlagen, erbittert, enttäuscht, vielfach körperlich und seelisch verwundet und oft mit radikalen Ideen in ihre zerstörte, hungernde und verunsicherte Heimat zurück.

Kaiser Karl musste dieser Entwicklung mehr oder weniger ohnmächtig zusehen. Sein Vorgänger, Kaiser Franz Joseph, war an der Seite des Deutschen Kaisers in den Krieg gezogen und Kaiser Karl konnte sich aus dieser Allianz nicht mehr befreien, obwohl Kriegsmüdigkeit und der Wunsch nach einem Waffenstillstand beim österreichischen Kaiser deutlich früher einsetzten als bei seinem Waffenkameraden, dem Deutschen Kaiser.

Mitte Oktober 1918, als sich die Österreichisch-Ungarische Monarchie schon in Auflösung befand, machte Kaiser Karl noch einen letzten verzweifelten Rettungsversuch. In seinem "Völkermanifest" vom 16. Oktober bot er den einzelnen Nationalitäten der Monarchie "Selbständigkeit" im Rahmen eines "Bundesstaates" an.

Wörtlich führte er aus: "Österreich soll, dem Willen seiner Völker gemäß, zu einem Bundesstaat werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiet sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet . . . Diese Neugestaltung, durch die die Integrität der Länder der ungarischen heiligen Krone in keiner Weise berührt wird, soll jedem nationalen Einzelstaate seine Selbständigkeit gewährleisten."

Aber das war zu wenig und zu spät. Schon im Juli 1918 war die letzte österreichische Offensive an der italienischen Front gescheitert. Zur gleichen Zeit begannen die Tschechen ganz konkret mit den Vorbereitungen zur Gründung eines eigenen Staates. Am 29. Juni 1918 erklärte die französische Regierung gegenüber Edvard Benes (dem Staatspräsidenten der Tschechoslowakei ab 1935), dass sie den in Paris gegründeten Tschechoslowakischen Nationalrat als Vertreter der Tschechoslowakischen Nation anerkenne. Im August anerkannte auch Großbritannien die Tschechoslowakei, deren Soldaten teilweise noch in der Österreichisch-Ungarischen Armee kämpften, als selbständigen Staat.

Im September 1918 übernahm Tomas Masarik die Funktion eines tschechoslowakischen Staatspräsidenten und auch in den südslawischen Teilen der Monarchie und in Ungarn waren die Vorboten eines politischen Erdbebens deutlich zu spüren.

Am 3. Oktober 1918 veröffentlichte die Sozialdemokratische Partei unter dem Vorsitz von Victor Adler eine Erklärung, wonach sie das Selbstbestimmungsrecht der slawischen Nationen anerkennt und die Umwandlung Österreichs und Ungarns in eine Föderation Freier Gemeinwesen auf nationaler Basis anstrebe. Wenige Tage später erfolgte eine ähnliche Erklärung der Christlichsozialen Partei und es besteht für mich kein Zweifel, dass das schon erwähnte "Völkermanifest" von Kaiser Karl von diesen Gedanken stark beeinflusst war.

Gleichzeitig zwei Volksvertretungen

In diesen turbulenten Tagen, vor ziemlich genau 100 Jahren, einigten sich die Sozialdemokraten, die Christlichsozialen und die Deutschnationalen auf die Einberufung einer Provisorischen Nationalversammlung für den 21. Oktober 1918, bestehend aus den im Jahre 1911 in "Deutschen Wahlkreisen" gewählten Mandataren des alten Abgeordnetenhauses - soweit sie noch am Leben waren und dieser Einladung Folge leisten konnten (was z.B. in deutschsprachigen Gebieten der Tschechoslowakei nicht der Fall war).

Diese Provisorische Nationalversammlung von Deutsch-Österreich trat im Niederösterreichischen Landhaus in der Herrengasse zusammen und es gab zu diesem Zeitpunkt de facto zwei Volksvertretungen "nebeneinander", nämlich das Abgeordnetenhaus der Monarchie, das auch noch im Oktober 1918 zu Sitzungen in das Parlamentsgebäude am Ring einberufen wurde (und sich schließlich vertagte), und die Provisorische Nationalversammlung im Niederösterreichischen Landhaus.

Der Kaiser hatte seine Macht verloren. Die Bürokratie hatte keine Chefs, die Entscheidungen trafen. Die Disziplin in der Armee hatte sich weitgehend aufgelöst. Die Unsicherheit konnte nicht größer sein. Revolution lag in der Luft.

Aber es kam in Österreich zu keiner gewaltsamen Revolution, die mit den Zuständen in Russland oder auch mit der Zahl der Toten in Deutschland vergleichbar gewesen wäre, sondern bestenfalls (oder schlimmstenfalls) zu einem Bruch der Rechtskontinuität, da eine Gruppe von Parlamentariern, die vor sieben Jahren gewählt worden waren und sich auf das Vertrauen der drei stärksten Parlamentsfraktionen stützen konnten, sich anschickte, in einer Provisorischen Nationalversammlung Beschlüsse über die Gründung einer Republik Deutsch-Österreich zu fassen.

Karl Renner arbeitete an der ersten Verfassung der Republik

Aber noch immer war die kaiserliche Regierung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie im Amt und nachdem Ministerpräsident Hussarek von Heinlein aufgrund der jüngsten Ereignisse am 18. Oktober 1918 zurücktrat, ernannte Kaiser Karl noch am 27. Oktober 1918 in der Person von Heinrich Lammasch einen neuen Ministerpräsidenten in einer de facto nicht mehr existierenden Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Zu gleicher Zeit arbeitete der Sozialdemokrat Karl Renner als Leiter der Staatskanzlei und etwas später als provisorischer Staatskanzler gemeinsam mit Vertretern der beiden anderen Parteien an einer provisorischen Verfassung für eine demokratische Republik.

Am 30. Oktober - Kaiser Karl residierte noch immer in der Hofburg beziehungsweise in Schönbrunn - tagte die Provisorische Nationalversammlung für Deutsch-Österreich neuerlich und genehmigte einstimmig diesen ersten Verfassungsentwurf, dem sein provisorischer Charakter deutlich anzusehen war. Danach wählte die Provisorische Nationalversammlung einen 22-köpfigen Staatsrat, an dessen Spitze ein Präsidium, bestehend aus den drei gleichberechtigten Präsidenten der Provisorischen Nationalversammlung, nämlich Franz Dinghofer für die Deutschnationalen, Johann Nepomuk Hauser für die Christlichsozialen und Karl Seitz für die Sozialdemokraten stand.

Der nächste und wichtigste Schritt wurde am 12. November 1918 gesetzt, als das Verfassungsgesetz über die Gründung der demokratischen Republik Deutsch-Österreich im Parlament am Ring einstimmig beschlossen wurde und dieser Gründungsakt anschließend unter chaotischen Bedingungen von der Parlamentsrampe aus mündlich "verkündet wurde". Aus der Memoirenliteratur wissen wir, wie chaotisch diese Tage verlaufen sind.

Über den 12. November 1918 und die Nachgeschichte wird im nächsten Kommentar berichtet.

Veranstaltungshinweis:
Am 11. November um 11 Uhr findet im Wiener Burgtheater eine Matinée zu den Ereignissen des November 1918 statt.