Im September 1918 übernahm Tomas Masarik die Funktion eines tschechoslowakischen Staatspräsidenten und auch in den südslawischen Teilen der Monarchie und in Ungarn waren die Vorboten eines politischen Erdbebens deutlich zu spüren.
Am 3. Oktober 1918 veröffentlichte die Sozialdemokratische Partei unter dem Vorsitz von Victor Adler eine Erklärung, wonach sie das Selbstbestimmungsrecht der slawischen Nationen anerkennt und die Umwandlung Österreichs und Ungarns in eine Föderation Freier Gemeinwesen auf nationaler Basis anstrebe. Wenige Tage später erfolgte eine ähnliche Erklärung der Christlichsozialen Partei und es besteht für mich kein Zweifel, dass das schon erwähnte "Völkermanifest" von Kaiser Karl von diesen Gedanken stark beeinflusst war.
Gleichzeitig zwei Volksvertretungen
In diesen turbulenten Tagen, vor ziemlich genau 100 Jahren, einigten sich die Sozialdemokraten, die Christlichsozialen und die Deutschnationalen auf die Einberufung einer Provisorischen Nationalversammlung für den 21. Oktober 1918, bestehend aus den im Jahre 1911 in "Deutschen Wahlkreisen" gewählten Mandataren des alten Abgeordnetenhauses - soweit sie noch am Leben waren und dieser Einladung Folge leisten konnten (was z.B. in deutschsprachigen Gebieten der Tschechoslowakei nicht der Fall war).
Diese Provisorische Nationalversammlung von Deutsch-Österreich trat im Niederösterreichischen Landhaus in der Herrengasse zusammen und es gab zu diesem Zeitpunkt de facto zwei Volksvertretungen "nebeneinander", nämlich das Abgeordnetenhaus der Monarchie, das auch noch im Oktober 1918 zu Sitzungen in das Parlamentsgebäude am Ring einberufen wurde (und sich schließlich vertagte), und die Provisorische Nationalversammlung im Niederösterreichischen Landhaus.
Der Kaiser hatte seine Macht verloren. Die Bürokratie hatte keine Chefs, die Entscheidungen trafen. Die Disziplin in der Armee hatte sich weitgehend aufgelöst. Die Unsicherheit konnte nicht größer sein. Revolution lag in der Luft.
Aber es kam in Österreich zu keiner gewaltsamen Revolution, die mit den Zuständen in Russland oder auch mit der Zahl der Toten in Deutschland vergleichbar gewesen wäre, sondern bestenfalls (oder schlimmstenfalls) zu einem Bruch der Rechtskontinuität, da eine Gruppe von Parlamentariern, die vor sieben Jahren gewählt worden waren und sich auf das Vertrauen der drei stärksten Parlamentsfraktionen stützen konnten, sich anschickte, in einer Provisorischen Nationalversammlung Beschlüsse über die Gründung einer Republik Deutsch-Österreich zu fassen.
Karl Renner arbeitete an der ersten Verfassung der Republik
Aber noch immer war die kaiserliche Regierung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie im Amt und nachdem Ministerpräsident Hussarek von Heinlein aufgrund der jüngsten Ereignisse am 18. Oktober 1918 zurücktrat, ernannte Kaiser Karl noch am 27. Oktober 1918 in der Person von Heinrich Lammasch einen neuen Ministerpräsidenten in einer de facto nicht mehr existierenden Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Zu gleicher Zeit arbeitete der Sozialdemokrat Karl Renner als Leiter der Staatskanzlei und etwas später als provisorischer Staatskanzler gemeinsam mit Vertretern der beiden anderen Parteien an einer provisorischen Verfassung für eine demokratische Republik.