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Die geteilte Stadt

Von Bernd Vasari

Rechts: Velenices in knalligen Farben bemalte Plattenbauten. Links: Gmünds pittoresker Hauptplatz mit frisch gestrichenen bunten Häusern aus dem 16. Jahrhundert.
© Bernd Vasari

Anfeindung, Vertreibung, Eisener Vorhang. Wie Gmünd und České Velenice mit ihrer dunklen Vergangenheit umgehen.


České Velenice/Gmünd. Die Gewohnheit hat ein schlechtes Image. Sie gilt als träge, eintönig, schwerfällig. Doch manchmal wohnt ihr auch etwas Leichtes inne. In der Gmündner Handelsakademie weiß man die Gewohnheit zu schätzen: "Ahoj, jak to lo?" ("Hi, wie lief es?", Anm.) "Danke, ging gut. Die Fragen waren dieses Mal leichter." Tomá und David lachen. Was wie ein gewöhnlicher Dialog zwischen zwei Schülern über eine Schularbeit klingt, hat in Wahrheit größere Bedeutung.

Noch vor 30 Jahren wäre in Gmünd (5300 Einwohner) niemand auf die Idee gekommen, tschechisch zu sprechen. Die Tschechen, das waren "die Anderen" in České Velenice (3500 Einwohner), da drüben, auf der anderen Seite der Stadt. Seit dem Ende der Monarchie vor hundert Jahren teilt die Staatsgrenze die Waldviertler Gemeinde. Gewaltsam und blutig verlief ihre Geschichte in den darauffolgenden Jahrzehnten. Heute versucht man, darüber hinwegzukommen.

"Die Grenze war gesichert mit Stacheldraht und Wachtürmen", erinnert sich Reinhard Ettmüller. "Es wurden Menschen erschossen, die versucht haben von der Tschechoslowakei nach Österreich zu kommen." Ettmüller, grau melierter Bart, rahmenlose Brille, dunkelblauer Pullover, unterrichtet in der Gmündner Handelsakademie Deutsch, Politische Bildung, Geschichte. Er ist zuständig für die Koordination der tschechischen Schüler, die hier, in dem hellgrauen, schlichten 70er-Jahre-Bau in die Schule gehen.

Die Schule gilt als Vorzeigeprojekt der Zusammenführung von Tschechen und Österreichern. Die Klassen sind durchmischt. So, wie es bis 1918 üblich war. Unterrichtet wird auf Deutsch, die erste Fremdsprache ist Englisch. Als zweite Fremdsprache können die Schüler zwischen Französisch und Tschechisch wählen. Rund die Hälfte entscheidet sich für die Sprache der Nachbarn.

Als im November 1989 der Eiserne Vorhang fiel, standen sich die Bewohner nach Jahrzehnten der Trennung mit staunenden Blicken wieder gegenüber. Jeder, der konnte, besuchte die andere Seite. In Grau- und Brauntönen gekleidete Velenicer trafen auf Gmündner in farbenfroher Kleidung der 80er Jahre. Die beiden Städte hatten sich in zwei Geschwindigkeiten entwickelt, die Unterschiede waren frappant.

Auf der einen Seite mäßig gefüllte Regale mit Gemüse in Einmachgläsern, billige Zigaretten. Zahlreiche Lautsprecher verbreiteten Parteipropaganda in den Straßen. Auf der anderen Seite eine scheinbar unendliche Auswahl an Mandarinen, Bananen, Sportschuhen, zahlreiche Schilder mit Werbereklame. "Für sie war es wie ein Märchenland", sagt Ettmüller. "Und auch wir konnten endlich rüber."

Gemischte Schulklassen

Es war eine lokale Bank, die sich nur wenige Monate nach der Grenzöffnung dafür einsetzte, tschechische Schüler an die österreichische Handelsakademie zu bringen. Rund 10.000 Euro stellte die Bank zur Verfügung. Die Gmündner Schule knüpfte daraufhin Kontakt mit der Handelsakademie im 60 Kilometer entfernten České Budejovice. Erfolgreich. Ein knappes Jahr später saßen 35 15-jährige Tschechen in einer eigenen Klasse im kurz davor noch unerreichbaren Gmünd.

HAK-Lehrer Reinhard Ettmüller.
© Bernd Vasari

"Das war eine Eliteklasse", erzählt Ettmüller. "Die Lehrer in Budejovice wählten die besten Schüler aus Südböhmen aus." Jeden Tag chauffierte sie ein Bus nach Österreich und am Abend wieder nach Hause. 26 von ihnen maturierten, 14 mit ausgezeichnetem Erfolg. "Einige Tschechen entwickelten einen größeren deutschen Wortschatz, als die Österreicher", sagt Ettmüller.

Die nächste Schulstufe wurde bereits in gemischten Klassen unterrichtet. Unter ihnen der tschechische Schüler Jaromir Koc. "Ich war eines der Versuchskaninchen", sagt er heute und lacht. Rechnungswesen, Betriebswirtschaftslehre, Staatsbürgerschaftskunde. "Das ganze Programm auf Deutsch", erinnert sich Koc. "Ich musste sogar die österreichische Bundeshymne lernen." Ob das für ihn nicht komisch war? "Ich hatte kein Problem mit Österreich. Ich hatte das Glück, nette Menschen kennenzulernen."

Als er zum ersten Mal in der Klasse stand, schwiegen sich beide Seiten an. "Ich hatte Angst. Sie hatten Angst. Das legte sich aber", sagt er. Bald fand er Freunde, ein Lehrer nahm ihn zum Fußballspielen mit, er spielte Theater im Waldviertler Hoftheater im benachbarten Pürbach.

Mit seinen mit Gel nach hinten frisierten, schwarzen Haaren, T-Shirt, lockeren Umgang, fungiert Koc als Eisbrecher zwischen den beiden Gemeinden. Er ist die Schnittstelle zwischen Velenice und Gmünd, vermittelt Kontakte, steht als Dolmetscher zu Verfügung, pflegt ein enges Verhältnis zu beiden Seiten. Auf seine Schulzeit angesprochen, zeigt er sich dankbar. "Hätte ich österreichische Schüler um mich gehabt, die mit Tschechen nichts zu tun haben wollten, wäre alles anders für mich gelaufen", sagt er.

Koc erzählt von Lehrern, die von Schülern verlangten, den Schulstoff auswendig zu lernen. "Ich habe oft etwas gelernt, was ich zur Gänze nicht verstanden habe." Ein anderer Lehrer wurde als Kind von Velenice vertrieben. "Er erzählte mit Tränen in den Augen seine Geschichte. Trotz allem, was er erlebt hat, war er zu uns immer freundlich." Und dann waren da noch die österreichischen Mitschüler. "Sie wollten nicht richtig Tschechisch lernen", sagt er und schüttelt den Kopf. "Sie wollten nur die Übersetzung von Schimpfwörtern, Bier und Ähnlichem."

Die gemischten Klassen gibt es heute noch. Der tschechische Anteil liegt etwa bei zehn Prozent. Viele von den ehemaligen Schülern studieren in Linz und Wien. Ein paar Tschechen haben sogar österreichische Klassenkollegen geheiratet.

Doch trotz dieser Erfolge, die Jahrzehnte des Misstrauens zwischen den beiden Nachbarn lassen sich nicht so einfach wegwischen. Anfang der 90er Jahre schrieben die Schüler auf elektrischen Schreibmaschinen. Auch für die tschechischen Schüler wurden welche besorgt. "Sofort gab es Neid", sagt Ettmüller. "Die Leute glaubten, dass die Schreibmaschinen den Schülern geschenkt wurden, dabei musste jeder sie selbst bezahlen."

Auch 30 Jahre später sind die beiden Gebiete noch nicht zusammengewachsen, befindet der Lehrer. Das größte Hindernis sei die Sprachbarriere. "Ein Großteil der Österreicher ist nicht in der Lage, mit den Tschechen normal zu sprechen", sagt er. "Sie sprechen mit ihnen nur im Infinitiv: Du gehen, du brauchen, usw." Ein Vorzeigeprojekt wie die Gmündner Schule auf tschechischer Seite kann er sich nicht vorstellen. "Das Interesse der Österreicher ihre Kinder nach Velenice zu schicken, ist null. Es gibt auch wenige, die drüben arbeiten", sagt er.

In Velenice und Gmünd werden mittlerweile dieselben Waren angeboten, die Unterschiede sind aber noch immer sichtbar. Gmünds pittoresker Hauptplatz mit frisch gestrichenen bunten Häusern aus dem 16. Jahrhundert, Velenices in knalligen Farben bemalte Plattenbauten. Gmünds rauchfreier Bahnhof in Glas und Stahlbeton, Velenices Bahnhof mit abblätternder Fassade, freistehenden Heizungen, Alkohol- und rauchgeschwängertem Beisl. Gmünds SUV-Fahrer, Velenices Fußgänger.

Gmündner Bahnhof im Jahr 1912.
© Stadtarchiv Gmünd

Tausende Arbeitsplätze

1870 wurde Gmünd an die Bahnstrecke von Wien nach Prag angeschlossen. Aus dem verschlafenen Provinznest entwickelte sich rasch eine prosperierende Stadt mit Tausenden Arbeitsplätzen. Der prachtvolle Bahnhof und dazugehörige großzügige Werkstätten wurden in den zwei Gmündner Vororten Böhmzeil und Unter-Wielands angesiedelt. Neben der Bahnhofswerkstatt siedelte sich auch die Textilindustrie an. Darunter Backhausen und Baumann Dekor, bekannt als Erzeuger spezieller Stoffe, die auch in Luxushotels oder auf Kreuzfahrtschiffen zu finden sind.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Europa neu aufgeteilt. Böhmzeil und Unter-Wielands wurden zusammengefasst und gingen samt Bahnhof an die Tschechoslowakei. Ihr neuer Name: České Velenice (Böhmisch Wielands). Die Grenzziehung vor hundert Jahren war der Auftakt für den Hass, der danach geschürt wurde, erklärt der Historiker Harald Winkler. "Das hat die Leute sehr geprägt." Drei Generationen wurden auf beiden Seiten aufgehetzt, zuerst durch rechtsradikale Politik, später im Kampf der Ideologien Kommunismus gegen Kapitalismus. Die Tschechen bezeichneten die Österreicher abfällig als "die Bauern", die Österreicher bezeichneten die Tschechen als "falsche Behm‘", sagt Ettmüller. "Das sitzt noch immer in den Köpfen der Alten." Winkler ergänzt: "Es war nie ein Problem, dass hier Tschechen und Deutsche zusammengelebt haben. Es ist der nationalistischen Politik zuzuschreiben, dass es dann auseinanderging. Wir sind wir und das sind die Anderen."

Die Staatsgrenzen der beiden neugegründeten Republiken Österreich und Tschechoslowakei wurden 1919 im Vertrag von Saint-Germain geregelt. Österreich als Verursacher und Verlierer des Ersten Weltkrieges musste den von den Alliierten und ihren Verbündeten vorgelegten Vertrag unterschreiben. "Die Tschechen haben uns dieses Gebiet weggenommen, wir müssen es uns wieder zurückholen", hieß es bald von Politikern und in der Bevölkerung. Der Vertrag wurde als "Schandfriede" bezeichnet.

Knapp 20 Jahre später wurde das Gebiet tatsächlich "zurückgeholt". Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Velenice im Herbst 1938 an Gmünd angeschlossen. Die tschechischen Bewohner wurden gewaltsam vertrieben. Velenice hieß nun Gmünd III, ein Begriff, der heute noch von der älteren Bevölkerung verwendet wird. Der Stadtteil wurde mit deutschsprachigen Menschen besiedelt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Niederlage der Nationalsozialisten wurden die Grenzen wieder hergestellt. Nun wurde die deutsche Bevölkerung gewaltsam aus Velenice vertrieben.

Doch auch viele Tschechen mussten ihre Häuser zurücklassen. Das tschechische Regime wollte möglichst wenige Menschen in der Nähe Österreichs haben, die noch eine Beziehung zu Gmünd hatten. Besiedelt wurde die Stadt mit Tschechen aus dem Landesinneren. 1951 wurde die Grenze mit dem Eisernen Vorhang befestigt. Wer aus der Tschechoslowakei nach Österreich fliehen wollte, wurde erschossen.

"Die Soldaten waren eiskalt", erzählt Jaromir Koc. "Einmal bin ich mit meinem Vater und mit meinem Bruder auf dem Fahrrad in Richtung Grenze gefahren. Sobald uns die Soldaten sahen, haben sie ihre Waffen auf uns gerichtet." Es war eine Zeit, in der niemand wusste, dass er arm war, weil das die Norm war. Alle waren gleich. Prag, Warschau und Moskau waren Velenice in dieser Zeit näher als Gmünd. "Wir wussten nicht, was sich hinter der Grenze abspielt", erzählt Koc. "Wir wussten aber, dass es dort ganz anders sein musste als bei uns."

Feuerwerk über Gmünd

Er erzählt von Silvester, als jedes Mal das Gmündner Neujahresfeuerwerk den Himmel erleuchtete. "Bei uns war nichts. Feuerwerkskörper gab es ja nicht zu kaufen." Er erzählt von der Grundschule, von der man aus dem Fenster im 3. Stock die Dächer von Gmünd sehen konnte. Er verbrachte Stunden damit seinen Blick auf Österreich zu richten. Er versuchte sich vorzustellen, wie die nur wenige 100 Meter entfernt wohnenden Menschen wohl leben würden. Was sie beschäftigt, worüber sie sich freuen, wie sie über die Menschen in Velenice denken.

Koc erzählt vom heimlichen ORF-Schauen und Ö3-Hören. "Ich habe Milka Jahre vorher gekannt, bevor ich sie gekostet habe, ich wusste, dass irgendetwas kuschelweich sein kann, auch wenn ich damals noch kein Deutsch konnte." Probleme mit dem Empfang gab es nicht. "Die Antenne in Weitra, zehn Kilometer südlich von Gmünd, war stark genug."

Gmünds Stadtchefin Helga Rosenmayer.
© Bernd Vasari

Dann wurde der Stacheldraht eines Tages eingerollt, die Wachtürme abgebaut. "Es war komisch. Ich bin mit Verwandten auf die andere Seite gefahren, wo ich dann alle aus Velenice traf." Die wichtigsten Orte in Gmünd wurden für ihn Libro für CDs und Schallplatten und die Trafik. "Das Erste, was ich mir kaufte, war eine ,Bravo‘. Ich habe diese Ausgabe noch immer daheim", erzählt er. In dem Heft war eine signierte Karte von Batman-Darsteller, Michael Keaton. "Ich war geschockt, als ich erfuhr, dass ,Bravo‘ jede Woche erscheint. Das konnte ich mir nicht leisten." Auf der Seite von Velenice wurden Deutschkurse angeboten. Die ersten ausgerechnet auf dem alten Bahnhof. Koc erinnert sich an die erste Lektion: "Entschuldigen Sie, wann kommt der Zug aus Prag? Der Zug aus Prag, er ist um 8 Uhr da."

Doch wie sollte Vertrauen zwischen den Nachbarn geschaffen werden? Wie sollte aus politischen Wirren Freundschaft werden? "Auf Gemeindeebene hat die Zusammenarbeit sehr schnell angefangen", sagt der Bürgermeister von České Velenice, Jaromir Sliva, ein schüchterner, bedächtig sprechender Mann, blaues Hemd, Kurzhaarschnitt. "Wir haben gegenseitig an unsere Türen und Fenster geklopft, versucht herauszufinden, wo wir einer Meinung sind." Bald darauf gab es gemeinsame Kulturveranstaltungen, Feuerwehrfeste, Sportturniere.

Die Bevölkerung tat sich jedoch schwer nach all den Jahren aufeinander zuzugehen. "Für die normalen Leute hat man keinen Platz gefunden, wo sie sich kennenlernen können", sagt Sliva. Die Sprachbarriere und die enormen ökonomischen Unterschiede bremsten die Bemühungen. Ein Großteil der Alten war zudem sehr ängstlich. "Sie haben in ihrem Leben gelernt, dass Veränderung für sie immer Verschlechterung bedeutete", sagt Sliva.

Gemeinsam gegen Lkw-Transit

Auf der anderen Seite in Gmünd amtiert Helga Rosenmayer als Bürgermeisterin. Grüne Jacke über schwarzem Oberteil, dunkle Rahmenbrille, verschmitzter Blick. Sie stimmt ihrem Kollegen aus Velenice zu: "Die Zusammenarbeit der beiden Gemeinden läuft sehr gut. Wir sehen uns als gemeinsame Region." Sie zählt die gemeinsamen Errungenschaften auf. Die grenzübergreifende Gesundheitsversorgung in den zweisprachig angeschriebenen Krankenhäusern, den Staatsvertrag zwischen den Rettungen und den Feuerwehren, die grenzüberschreitend im Einsatz sind. Auch eine Landkarte sei in Planung, auf der neben Gmünd auch České Velenice abgebildet ist. Gemeinsam versucht man zudem, den Lkw-Transitverkehr durch die beiden Städte einzudämmen.

Aus dem Fenster blickte Jaromir Koc jahrelang nach Österreich.

Unterstützung halten die beiden Nachbarorte von der Europäischen Union. "Wenn man grenzüberschreitende Projekte entwickelt, bekommt man leichter die EU-Förderung", gesteht Rosenmayer. Sie sagt aber auch: "Wenn man wo Europa spüren kann, dann bei uns." Für sie steht fest: "Man muss die Sprache des Nachbarn können." Sie räumt im gleichen Atemzug jedoch ein, dass weder sie noch Sliva, ihr Amtskollege aus Velenice, die Sprache des anderen sprechen. "Wir verstehen uns gut, aber wir verstehen uns nicht", sagt sie und lacht. "Wir haben uns aber einen Zeitrahmen von 20 Jahren ausgemacht, in der wir die Sprachen erlernen." Ob es bis dahin klappen wird?

Die Enteignungen und Vertreibungen der deutschsprachigen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg waren durch die Beneš-Dekrete des damaligen Staatspräsidenten Edvard Beneš legitimiert. Sie gelten nach wie vor. Wie geht Lehrer Ettmüller in den gemischten tschechisch-österreichischen Klassen damit um? Werden die Verordnungen thematisiert? "Ich versuche, den Schülern zu erklären, warum es sie gibt", sagt Ettmüller. "Ich erkläre ihnen die Vorgeschichte, dass die Nazis in Tschechien schwere Verbrechen begangen haben." Die Schüler würde es aber kaum interessieren. Ettmüller ist dafür, dass die Dekrete rechtlich aufgehoben werden, ohne Konsequenzen. "Die Tschechen befürchten ja eine Flut von Klagen, weil die Österreicher mit der Aufhebung der Dekrete ihre Grundstücke zurückfordern könnten."

Brisanter unter den Schülern ist das Atomkraftwerk Temelin, nördlich von České Budejovice. Ein Thema, das beide Seiten emotionalisiert. "Ich bin kein Freund der Atomkraft", sagt Ettmüller. Von seinen tschechischen Schülern bekam er zu hören: "Das ist Propaganda, was Sie da sagen." Ettmüller argumentierte, wie gefährlich diese Technologie sei. "Ich wollte ihnen die Augen dafür öffnen. Das ist mir aber oft nicht gelungen", sagt er. Der Lehrer versteht aber auch die tschechische Seite. Durch den jahrzehntelangen Kohleabbau sei die Natur in Nordböhmen kaputt gewesen. Dabei brauche Tschechien im Aufbau von einem rückständigen in einen modernen Staat viel Energie. "In Österreich sitzen wir mit unserer Wasserkraft im gelobten Land. Das kann man nicht mit Tschechien vergleichen."

Im Gegensatz zur Schule werden die Beneš-Dekrete und das Atomkraftwerk auf der Gemeindeebene nicht thematisiert. "Man schaut eher auf die Dinge, die funktionieren", sagt Bürgermeisterin Helga Rosenmayer. "So kommt man aufeinander zu." Die Beneš-Dekrete seien zudem nur noch für Historiker interessant. Nachsatz: "Irgendwann muss es mit diesem Thema auch vorbei sein. Man darf es nicht vergessen, aber irgendwann wollen wir als Region in Frieden zusammenleben", sagt sie.

Auf ein Bier in Velenice

Bürgermeister Sliva stimmt zu. Wichtiger sind ihm alltägliche Dinge. "Mein Traum ist es, dass sich zwei Bauern, einer aus Österreich, einer aus Tschechien, auf ein Bier in Velenice treffen", erklärt er. "Sie haben dabei nicht in den Köpfen, dass sie sich nicht verstehen. Sie reden miteinander über ihre Probleme als Landwirt, über ihre Familien, Alltägliches. So, wie es unter Gleichsprachigen auch ganz normal passiert."

Velenices Stadtchef Jaromir Sliva.
© Bernd Vasari

Sliva ist zuversichtlich, wenn er in die Zukunft blickt. Die Generation, die nach 1989 geboren wurde, interessiert die Vergangenheit nicht. "Wenn ich meine Tochter frage, was sich im November 1989 abspielte, dann sagt sie: ‚Ich weiß es nicht‘", sagt Sliva. "Dann bin ich zwar sauer. Es zeigt aber auch, dass die Jugend unserer Geschichte mit Leichtigkeit begegnet. Das finde ich gut."

Auch Ettmüller erklärt: "‚Das ist so weit weg von uns‘, sagen die Jungen. Es gibt keinen Bezug mehr dazu." Seine Schüler haben auch keine Ahnung, was Kommunismus bedeutet. Der stark reduzierte Geschichtsunterricht mache es nicht möglich, die Ideologie den Schülern näherzubringen, ihnen zu erklären, was Marxismus wirklich ist.

Auch Jaromir Koc sieht ein Generationengefälle: "Viele Tschechen hassen es, wenn jemand zu Velenice Gmünd III sagt. Es sind vor allem die Alten, die es auf der einen Seite so nennen, und die Alten, die es auf der anderen Seite so hassen. Mich stört das nicht."

Auch wenn es nicht perfekt ist, der Trend geht in eine Richtung, ist auf beiden Seiten immer wieder zu hören. Die Alten würden einander mit hängenden Köpfen begegnen, die Generation danach grüßt sich, die Jungen kümmert es nicht, ob jemand Tscheche ist oder Österreicher. Sie sind es gewohnt, dass die Grenze keine Bedeutung mehr hat.